Karfreitag 2024
für den Vormittag

Veronica war ein kleines Mädchen von etwa sieben Jahren, als die Mutter ihr das feine Tuch aus Muschelseide schenkte. „Trage dieses Tüchlein zweifach gefaltet immer bei dir, mein Kind”, sagte die Mutter. „Du wirst es einmal brauchen können.” So trug Veronica das Tüchlein im Bausch des Gewandes am Busen immer bei sich. Die Eltern des Kindes waren vermögend, der Vater ein Perlenhändler und Goldschmied, die Mutter eine gebildete Frau. Als das Kind älter wurde, stellte sich heraus, dass es klug war und schön. Es starben die Eltern und ließen Veronica zurück - in gesicherten Verhältnissen, ausgestattet mit Geld und Gut und einer erlesenen Bibliothek guter Bücher. Aber lange wollte sich keiner finden, der Veronica zum Weibe nahm. Denn sie war wirklich sehr klug und interessierte sich für die wesentlichen Dinge des Lebens in der Welt. Niemand der übrig gebliebenen Männer der Stadt Jerusalem und aller Umgegend vermochte es, der jungen Frau das Wasser zu reichen. Und jedermann scheute vor ihr zurück. Tja … so ist es manchmal im Leben.

Dafür aber geriet die junge Frau in den Kreis derer, die Jesus nachfolgten und hörte ihm von ferne gern zu, kannte auch Maria Magdalena und die andere Maria. Da sie von einer gewissen Scheu war und zurückgezogen in ihrer Bibliothek eher in den alten Schriftrollen las und sich in Texte der Weisheit vertiefte, auch gar nicht daran dachte herumzuziehen und sich törichtes Gerede von Altersgenossinnen anzuhören, erfuhr sie von der Verhaftung des geliebten Meisters erst sehr spät. Erst als der von ihr Verehrte mit dem Kreuz auf der Schulter seinen Weg zum Schädelberg taumelte, drängte sie sich an die Straße, wo sich der Haufe schon lange herumdrückte. „Hau ab. Hau ab. Jesus muss weg. Jesus muss weg. Wir sind das Volk!” brüllten sie. Veronika war bestürzt, sie schob sich nach vorn - und da kam bereits auch ihr Meister, der Geliebte, Jesus, des Gottes Sohn gelaufen. Und schaute ihr geradewegs in die Augen. So dicht war sie ihm oder er ihr noch nie gekommen. Etwa eineinhalb Meter nur waren sie voneinander entfernt. Sein Gesicht war bedeckt mit Schweiß und Blut und dem Speichel des wütend gemachten Packs.

Da zog Veronica mit einer traumwandlerischen Geste das Tuch aus ihrem Gewand hervor, reichte es Jesus und er dankte ihr. Dann barg der Geplagte für einige Sekunden sein geschundenes Gesicht in der Muschelseide und drückte sein ganzes Wesen tief in den dünnen aus der Tiefe des Meeres stammenden Stoff. Reichte Veronika das Tuch mit dem Abbild seines Antlitzes und zerrte die Kreuzbalken weiter in Richtung Schädelstätte. Veronika aber ging nicht nach dort, wohin die anderen alle eilten, um das Drama zu beobachten. Die Hinrichtung zu erleben. Mal was anderes zu sehen - als alle Tage nur das ewig Gleiche. Nach Hause zog es sie - und auf dem großen Tisch ihrer Bibliothek, wo sonst die heiligen Rollen ihre Weisheit preisgaben, zauberhaft Rätselworte enthüllten, Zahlen und Buchstaben verrieten und den Sinn des Sinns verkündeten - dahin legte sie das gefaltete Tuch. Und entfaltete sie es. Siehe - ein vierfaches Bildnis offenbarte sich. Jesu Antlitz von rechts und links, zusätzlich einmal von oben und einmal von unten. Dasselbe Bild und doch nicht das gleiche. So, wie die vier Ströme des Paradieses die Welt bewässern und von dem einen Nebel entströmen, der als Weltäther alles durchtränkt und durchdringt.

Während der Körper Jesu draußen am Kreuz gequält und zerstört, gepeinigt und zerstochen wurde, ruhte das Bild seines Angesichts auf dem Tisch Veronicas und blickte still in alle vier Himmelsrichtungen. Wer aber ist diese Veronika? Sie ist die Seele des Menschen, der nach dem Bilde Gottes geschaffen worden ist und sein eigenes Bild immer sucht. Die Seele Veronica bewahrt das Urbild des göttlichen Menschen. In einem geheimnisverwobenem Tuche - das beides zeigt: Schmerz und Ewigkeit. Vera heißt wahr und Ikone Bild …

Autor:

Matthias Schollmeyer

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