AD ORNUM
das Honigopfer am Karfreitag


"Ist es vielleicht gar, dass so, wie die Schrift einen ihre eigenen Zeichen weit überfliegenden Sinn auf das Papier bannt, zusätzlich auch dieser Sinn noch ein Etwas herbei bannen will, welches jenseits seiner eigenen Bedeutung sich regt und lebt? Und auch bannen kann, wenn nur dieses Etwas im Kult und der Kunst mit Hingabe an die eigene Seele geübt und gespielt und ihm geopfert wird."

In weiser Meditation der Gedanken Friedrich Wilhelm Nietzsches über das Honigopfer auf den Gipfeln, wo der Weltgeist sich ausruht, hat der musikalische Jude Theodor W. Adorno über ähnliche Dinge von Jugend auf nachsinnen wollen - und müssen. Die Dreihundert-Seiten-Biographie von Lorenz Jäger1 lädt ein, den sonderbaren Mann aus Frankfurt kennen zu lernen, welcher 1903 vor 120 Jahren geboren wurde und gesagt haben soll, dass die "Philosophie dazu da wäre, das einzulösen, was im Blick eines Tieres liegt." Das ist die nachdenkliche Traurigkeit einer unlösbaren Frage, die damit zugleich ihre eigene Antwort bleibt.

Heute - am Karfreitag - senkt sich der Ton, auf den der HERR die Schöpfung ins Sein kalibriert hat, vom Ton "F", mit dem alle guten Lieder beginnen, genau einen Halbton tiefer hinab auf das "Es" mit dem die Ouvertüre des Rheingolds und damit auch die Götterdämmerung zu beginnen pflegt.  Was geht da ab? Draußen sind jetzt etwa 13 Grad Celsius, in den Kirchen, in welchen wir uns versammeln, sind es immer noch die winterlichen 5 Grad. Draußen das volle Licht des großen Nachmittags, an dem Nietzsche seinen Zarathustra Honig opfern lassen will, drinnen düsterer Schummer. Warum sind wir da nicht draußen, wo die Kinder dieser Welt bereits ihre Plastik-Ostereier in die aufbrechenden Forsythia-Zweige gehängt haben?

Nun - hier ist die Antwort: Unser Drin-Sein im kalten Stein jenseits des freundlichen Frühlings-Draußen entspricht etwa dem Sein Gottes in der wirklichen Welt. Das ewige Sein Gottes aber entspricht dem freundlichen Draußen. Die "Welt" dagegen gleicht dem von Kalksteinmauern umbauten Inneren der Dome, Münster, Kathedralen, Kirchen, Kapellen, Betsäle und kühlen Klosterzellen. Wir sind heute mit voller Absicht hier hinein gezogen, um mit unseren Leibern etwas von dem Sein Gottes in das Nichtsein Gottes gelangen zu lassen. Wir gehen dort hinein und vom Licht der Sonne draußen sechzig Minuten fort - und tragen also das Licht in die Kirche.

Nachmittags um drei sei die Mitternachtsstunde der abendländischen Metaphysik, sagt Adorno. Es ist jene Stunde, in der die Vögel für einen Takt ihre Frühlingslitanei verstummen lassen. Diese Pause kommt uns noch einmal entgegen - übermorgen als Arrhythmie des fröhlich hüpfenden Herzens angesichts der Tatsache, dass der Tod sich selbst fraß (in J.S.Bachs  Kantate "Christ lag in Todesbanden" - EG 101, Strophe 32).
Der Ton des Bienenschwarms im Stock sinkt einen Halbton hinab in Richtung Gräberfeld. Das ist die Stunde, für die die Menschenkinder am Karfreitag alle ihre Altäre von Allem losmachen, was sie verehrten, weil alles Verehrungswürdige mit dem göttlichen Sohn Christus als mitgestorben gilt. Nur noch eine leere Steinplatte starrt ins Unendliche sechsunddreißig Stunden Zeit, in der der Gott sich dem gewaltigen Sterbenmüssen seiner Geschöpfe anschmiegt.

Sechsunddreißig Stunden lang - Mozart starb im sechsunddreißigsten Lebensjahr - dauert der göttliche Zustand göttlicher Abwesenheit, die wie sonst nichts ausgefüllt ist mit Gottespräsenz. Als Generalpause, als Datei absoluten Erinnerungswillens. So dass sich in solcherart kultisch inszeniertem Tode Gottes das rote Blut  des Menschensohnes - des Menschenkindes - in goldenen Honig verwandeln musste. Nietzsche schrieb darüber, wie man diesen Honig auf Bergesgipfel tragen solle, um damit dort oben jene Menschen zu fangen, die auf der Suche nach etwas sind, das es bisher noch nicht gab im Tal des Allzumenschlichen.

In den Karfreitagsgottesdiensten nippen wir scheu und deshalb hie und da fast widerwillig davon. Wir möchten lieber rausgehen. Das können wir ja auch. Gleich nachher ist es vorbei - und die Sonne gehört euch wieder ins Gesicht geschienen. Aber es gibt keine wirklich österliche Freude ohne den wirklichen Karfreitagszauber vorher. Man muss es aushalten - das Kreuzgeschehen. Von jener ungehörigen Süße üppig reifer Früchte und Kelter, dem Konfekt aus den Tiegeln uralter Engelwesen muss man aber nicht allein genießen. In der Communio Sanctorum ist man gut aufgehoben. Besonders am Karfreitag. 

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1Lorenz Jäger: Adorno. Eine politische Biographie, München 2009
2"da bleibt nichts - denn Tods Gestalt"

Autor:

Matthias Schollmeyer

Webseite von Matthias Schollmeyer
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