Nächstenliebe kommt zum Zug

Einsatz an Gleis 3: Magdalena Steinhöfel von der Bahnhofsmission Erfurt hilft ehrenamtlich | Foto: Markus Wetterauer
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  • Einsatz an Gleis 3: Magdalena Steinhöfel von der Bahnhofsmission Erfurt hilft ehrenamtlich
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Streckenposten: Am zweiten Advents-Wochenende nimmt die Deutsche Bahn ihre neue »Rennstrecke« zwischen Berlin und München komplett in Betrieb. Reisende, die Hilfe brauchen, bekommen diese am Knotenbahnhof Erfurt von der Bahnhofsmission.

Von Markus Wetterauer

Heute kommen Uwe Friese, Magdalena Steinhöfel und Beate Wichmann ganz schön ins Schwitzen. Vier Stunden lang arbeiten sie an diesem Freitagnachmittag ehrenamtlich für die neue Bahnhofsmission am Erfurter Hauptbahnhof. Diebe haben auf der Strecke in Richtung Leipzig Teile der Oberleitung gestohlen. Das wirbelt den Fahrplan gehörig durcheinander. Viele Reisende sind stundenlang verspätet, verpassen Anschlüsse und sind froh, dass sie jemanden haben, der mit Rat und Tat zur Seite steht.
Oft sind es nur kleine Gesten, die weiterhelfen: Mal ist es ein Hinweis auf den Anschlusszug, für die Mutter mit Kinderwagen ist es der Tipp mit dem Aufzug. Seit Juni sind die 15 Freiwilligen der Erfurter Bahnhofsmission unterwegs als »Engel am Zug«. Jeden Freitagnachmittag helfen sie. Entstanden ist die Bahnhofsmission aus einer Gruppe von Menschen, die sich ganz allgemein für andere engagieren wollte. Schnell fand sich der Bahnhof als Ort, wo Menschen immer wieder Hilfe brauchen.
»Sowohl beim Bahn-Management als auch bei den Mitarbeitern in den Geschäften und bei der Stadt haben wir viel Resonanz erfahren und offene Türen eingerannt«, erinnert sich Hubertus Schönemann, selbst leidenschaftlicher Zugfahrer und einer der Initiatoren.
Im Gegensatz zu den Bahnhofsmissionen in anderen deutschen Städten läuft bisher alles auf freiwilliger Basis ab. Es gibt keine hauptamtlichen Mitarbeiter. Und vor allem: Es fehlt an einem Raum. »Das ist eine schwierige Situation, weil es Fälle gibt, wo es drauf ankäme, jemanden mal hinzusetzen, ein Gespräch zu führen und ein Glas Wasser zu geben«, so Schönemann. Hätte man einen solchen Raum, »dann könnten wir auch längere Zeiten abdecken« – und nicht nur den Freitagnachmittag.
Meistens sind zwei oder drei Freiwillige zu den Diensten am Gleis eingeteilt. Zu Beginn waren die Helfer ohne die leuchtend blauen Jacken der Bahnhofsmission unterwegs. Das war manchmal etwas schwierig, wie sich Magdalena Steinhöfel erinnert. »Es ist niemand auf uns zugekommen, weil wir ja auch normale Reisende hätten sein können«, so Steinhöfel, die praktische Theologie an der Universität Jena studiert und gerade an ihrer Doktorarbeit schreibt. »Wenn wir dann Hilfe angeboten haben, wurden wir erst mal skeptisch angeschaut.« Das hat sich geändert: Alle sind klar als Bahnhofsmission erkennbar: »Wir gehören quasi zum Inventar des Bahnhofs und die Leute verbinden mit uns Hilfeleistung.«
Auch Dagmar Schumann hat bei Zugreisen schon die Hilfe der Bahnhofsmission in Anspruch genommen: Zug verpasst, Anschluss weg – und sie wusste nicht, was sie machen sollte. Als sie vor Kurzem hörte, dass in Erfurt eine Bahnhofsmission gegründet wird, wollte sie mitmachen, »und die Hilfe weitergeben, die ich bekommen habe«. Jetzt
ist sie selbst im Einsatz am Bahnsteig.
Hubertus Schönemann wünscht sich noch mehr Freiwillige für das Team. Zwischen 25 und 30 strebt er an. Künftig gehört auch Luzia Rosenstengel-Kromke dazu. »Ich war ein paar Mal zum Schnuppern da«, erzählt sie. Bei einem Rundgang durch den Bahnhof hat sie so alle wichtigen Einrichtungen und das Bahnpersonal kennengelernt. Schon bisher wurde sie bei ihren Bahnreisen immer wieder mal angesprochen und von anderen Reisenden um Hilfe gebeten. Jetzt will sie andere regelmäßig unterstützen: »Das macht ja auch für einen selbst einen Sinn.«
Helfen und etwas weitergeben, das wollen die Helfer der Erfurter Bahnhofsmission aus christlicher Überzeugung. An den Adventsfreitagen soll das auch durch Fünf-Minuten-Impulse am großen Christbaum in der Eingangshalle des Bahnhofs geschehen: ein kurzes Musikstück, ein Gedanke zum Mitnehmen, ein Segensspruch für die Reisenden.
Wie wichtig Reden und Zuhören ist, hat Hubertus Schönemann vor ein paar Wochen erst wieder erfahren. Bei einem Einsatz traf er einen älteren Herrn, der im Urlaub einen Herzinfarkt hatte. Bevor dessen Frau ihn abholte, kümmerte sich Schönemann zwei Stunden lang um ihn, setzte sich zu ihm in den Wartesaal, gab ihm ein Glas Wasser, hörte ihm zu. Der Mann erzählte seine Lebensgeschichte und wie es ihm jetzt geht mit dem Herzinfarkt. Dann kam die Frau an, weinend, weil sie sich so gesorgt hatte, wie Hubertus Schönemann berichtet. »Wenn ich so etwas erlebe, dann weiß ich, warum ich das mache.«

Die Geschichte der Bahnhofsmission

Die Zeit war hart. Die Industrialisierung in Deutschland trieb in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts viele Menschen vom Land in die Stadt, vom Hunger in den Dörfern in die Hoffnung auf ein besseres Leben in den Metropolen. Darunter fanden sich viele junge Frauen auf der Suche nach einer Anstellung als Hausmädchen mit Aussicht auf etwas Geld. Oft genug erwies sich ihre Hoffnung als trügerisch und sie gerieten unter die Räder.
Um den jungen Frauen zu helfen, gründeten evangelische Christen 1894 in Berlin die erste Bahnhofsmission, im damaligen Schlesischen Bahnhof, dem heutigen Ostbahnhof. Freiwillige mit weißer Armbinde und achteckigem Kreuz als Kennzeichen empfingen sie auf den großen Berliner Bahnhöfen, gaben ihnen zu essen und vermittelten sie, soweit möglich, an zuverlässige Dienstherren. Nach Ende des Ersten Weltkriegs kümmerten sich die Helfer der Bahnhofsmission vor allem um die zurückkehrenden Soldaten und Flüchtlinge, Anfang der 1930er-Jahre dann um arbeitslose Jugendliche.
Während der Nazi-Diktatur verdrängten die Machthaber die Bahnhofsmissionen der evangelischen und katholischen Kirchen und die jüdische Bahnhofshilfe aus damals 350 Städten immer mehr und verboten sie schließlich 1939 ganz. Im Westen Deutschlands gab es nach 1945 einen Neubeginn der Bahnhofsmission – wenn auch unter den schweren Bedingungen der ersten Nachkriegsjahre. Die Helfer betreuten Flüchtlinge und Vertriebene, Heimkehrer aus dem Krieg und Familien, die einander suchten. Ab 1949 kamen die Reisenden der Interzonen-Züge dazu, in den sechziger Jahren Gastarbeiter aus Südeuropa, später Aussiedler, Arbeitslose, ältere Reisende, Flüchtlinge. In der DDR übernahmen die Sozialorganisation Volkssolidarität und das Rote Kreuz die Aufgaben der Bahnhofsmissionen, die der Staat 1956 schloss. Nach dem Fall der Mauer öffneten in Berlin und Halle, Magdeburg, Dessau und Leipzig, Chemnitz und Görlitz die ersten Bahnhofsmissionen spontan wieder ihre Türen.

Autor:

Adrienne Uebbing

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