Ein paar unendliche Tage im Krankenhaus
Abschied auf unbestimmte Zeit

Abgeben und allein zurücklassen - ein Tag in der Notaufnahme | Foto: Regina Englert
  • Abgeben und allein zurücklassen - ein Tag in der Notaufnahme
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Sssssst….die überdimensionale Tür schließt sich ganz sanft hinter mir, als wolle sie mich nicht aus meinen Gedanken reißen. Dabei hätte ich sie viel lieber zugeknallt, aber das funktioniert mit diesen automatischen Riesen ja leider nicht. Alles will ich jetzt sein, nur nicht sanft und leise und zurückhaltend. Laut sein, schreien und toben, mein Innerstes nach außen kehren, das will mein Herz. Mit ihm ringt mein Verstand. Er gewinnt, hält das Herz fest im Klammergriff. Nicht hier, sagt er, halt dich zurück. Nicht vor all diesen Menschen, die selbst schon viel zu viel erlebt haben, nicht vor diesem Haus voller Hoffnung und gleichzeitig tödlicher Gewissheit. Ich gehe mit starrem Blick zur Treppe, vorbei an den beiden stumm rauchenden Krankenschwestern, dem mit geschlossenen Augen tief durchatmenden Arzt. Das vielstimmige Vogelkonzert höre ich erst, als wir viel später zum Abholen wiederkommen dürfen. Ich gehe vorbei an den aufgereihten, gelangweilt blickenden Taxifahrern und der mit Taschen voller Wäsche bepackten jungen Frau an der Bushaltestelle. Vorbei an den unzähligen auf ihre Besitzer wartenden Autos. Wo steht meines? Vor 6 Stunden sind wir es hier nach einigen Irrwegen losgeworden, da waren wir noch zu Zweit. Mein erwachsenes Kind und ich. Auf dem Weg in die Notaufnahme. Hier könne man ihm helfen, hatte die Ärztin zu Hause gesagt. Ich schließe die Autotür auf. Als sie hinter mir zuploppt, fühle ich es fast körperlich. Eine weitere Tür zwischen uns. Der Abstand wird immer größer, die Gewissheit, nicht mehr so einfach in sein Zimmer gehen zu können, wächst mit jeder Minute. Wie eine Welle schlägt sie über mir zusammen. Nimmt mir die Luft. Lässt mich nur noch das Rauschen meines eigenen Blutes hören. An der Pforte könne man noch jederzeit etwas abgeben, wurde mir gesagt. Etwas abgeben – ich habe gerade mein Kind abgegeben! Aufheulen wie ein Wolf will ich, von ganz tief Innen. Ich schaue auf mein Parkticket, dieses lächerliche Stückchen Papier holt mich zurück. Wenn ich jetzt nicht fahre, komme ich bald nicht mehr durch die Schranke. Muss irgendeinem Fremden erklären, warum ich nicht losgefahren bin. Um keinen Preis fahren wollte. Nein, keine Erklärungen, nicht jetzt. Ich fahre blind vor Sorge in eine alles überdeckende Ungewissheit.
Gerade habe ich meinem Kind noch die Stirn geküsst. Es war ein stiller Segen, ohne hörbare Worte, aus Angst damit Angst zu hinterlassen und nichts erklären zu können. Das war bevor sich die Türen schlossen. Hätte ich bleiben dürfen, ich hätte mich still in eine Ecke gesetzt. Niemand hätte mich bemerkt. Nur da sein hätte ich wollen, bei meinem Kind an den vielen Kabeln, den piependen Monitoren, mit der ungewissen Diagnose. Aber in Coronazeiten bedeutet dieser Kuss einen Abschied auf unbestimmte Zeit. Wer weiß,  welche Verordnungen dazwischen kommen? Tür zu bedeutet die Möglichkeit vom Leben dahinter ausgesperrt zu werden.

Das Leben dahinter

Hinter der großen automatischen Tür sind die Menschen, die in diesem medizinischen Bienenschwarm ihrem Dienst im Laufschritt nachgehen, unerwartet freundlich und einfühlsam. Nach einem Jahr Pandemie habe ich damit nicht gerechnet. Aus dem Wartebereich heraus sehe ich den Eingang zum Untersuchungszimmer. Höre, dass ständig neue Fachbereiche hinzugezogen, neue Tests veranlasst werden, sehe, dass abermals Blut abgenommen und mit wehendem Kittel ins Labor transportiert wird. Hassan und Henriette, das sind die Vornamen der beiden jungen Ärzte, die über den Flur gerufen werden. Die Arbeit geht Hand in Hand. Das gibt Hoffnung. Trotz dieser Zeit, in der Pflegekräfte und Ärzte längst am Limit laufen, zählt hier der Einzelne. Voller Dankbarkeit sehe ich, jetzt ist er dran, jetzt ist er wichtig. Dieses Fünkchen Hoffnung fahre ich nun sorgsam nach Hause, hege und pflege es, bis neue Informationen kommen. Dürfen wir unser großes Kind abholen, muss es länger dort bleiben, wie ernst ist sein Zustand, was passiert gerade jetzt mit ihm? Der Blick aufs Handy wird chronisch. Hin und wieder kommt ein Zwischenbericht. Mal glitzern Hoffnungssterne am Himmel, mal erlöschen sie am Horizont. Auf und Ab, auf und ab.
Wie mag es den Menschen ergehen, die diesen Zustand länger als drei Tage durchmachen? Denen im Krankenbett und denen zu Hause? Und denen in den Seniorenheimen und den Verwandten an den Fensterscheiben davor, als alles begann? Ich mag nicht daran denken, es zerreißt mir das Herz.

Autor:

Regina Englert

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