Diakonisse
Die Schwester im Polizeiauto

Ihre Motivation zieht Helga Schöller aus dem Miteinander und aus ihrem Glauben. | Foto: Foto: Paul-Philipp Braun
  • Ihre Motivation zieht Helga Schöller aus dem Miteinander und aus ihrem Glauben.
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Es ist die Wohnung einer vielbeschäftigten Frau. Bücher dominieren den ersten Eindruck. Vor allem christliche Werke stehen und liegen in den Regalen. In der Ecke steht ein kleiner Schreibtisch, auf ihm liegen alte Fotos, über dem Tisch das schönste Motiv: Der unverbaute Fensterblick zur Wartburg. Es ist eine Aussicht, auf die Schwester Helga besonders stolz ist, und die hier, direkt unter dem Dach des Eisenacher Diakonissenmutterhauses einmalig ist.

Der Traum vom Ausland

Seit 26 Jahren bedeutet der Blick auf die Wartburg für Schwester Helga so etwas wie das zu Hause. 1994 wurde sie Oberin des Eisenacher Schwesternhauses, blieb es bis 2003 und widmet sich seitdem ihren Ehrenämtern und dem Reisen.
Denn die Welt sehen, das wollte die Diakonisse aus dem württembergischen Weilstetten schon immer. Bereits als kleines Mädchen habe sie den Traum gehabt, erzählt die Frau in dunkler Tracht und mit weißer Schwesternhaube, ins Ausland zu gehen.

Doch sie wird 1939 geboren. Als drittes von fünf Kindern, der Vater stirbt 1946 bei einem Unfall. Die Mutter erkrankt schwer. Mit 14 lernte sie den Beruf der Lederhandschuh-Näherin und arbeitete in einer großen Fabrik. "Es war einfach ein Graus", erinnert Schwester Helga sich. Und fügt hinzu, dass es aber auch eine tolle Schule gewesen sei – im Umgang mit Menschen. Der Traum vom Ausland lässt die junge Helga Schöller nicht los.
Doch der Zweite Weltkrieg ist erst wenige Jahre vorbei, die junge Bundesrepublik hat sich noch nicht erholt. "Ins Ausland, das ging nur über die Mission oder den Entwicklungsdienst", sagt Helga Schöller. Eine medizinische Grundausbildung: feste Voraussetzung für ein Auslandsabenteuer. Mit 19 Jahren beginnt Schöller ihre Schwesternausbildung im Balinger Kreiskrankenhaus, kommt mit Diakonissen in Kontakt und beschließt, deren Leben zu führen und in die Schwesternschaft des Stuttgarter Olgamutterhauses einzutreten.
Eine Entscheidung, die ihr Leben verändert, und die Schöller leichter fällt, als es gemeinhin gedacht wird. "Ich wollte nicht heiraten, ich wollte keine Familie", sagt sie rückblickend. Vor allem die Erfahrungen in der eigenen Familie hätten sie damals beeinflusst. Gehorsam, Ehelosigkeit und Armut sind die sogenannten Evangelischen Räte, nach denen Diakonissen bis heute leben. Für Helga Schöller mehr Chance als Last, ermöglichte diese Lebensweise ihr einen Ausbruch aus dem starren Rollensystem der Nachkriegszeit. Und damit auch ein Leben, das vom Glauben und nicht vom Ehemann bestimmt wird.

Fester Bezug zu Thüringen

Schon drei Jahre nach ihrer Ausbildung lässt sie sich zur Unterrichtsschwester und Pflegedienstleiterin weiterbilden, leitet später Sozialstationen und wird Abteilungsleiterin für ambulante Pflegedienste im Diakonischen Werk Württemberg. Eine Zeit, an die Schöller sich gern zurückerinnert, schließlich war sie auch für den Austausch mit dem in der DDR befindlichen Diakonissenmutterhaus in Eisenach zuständig.
In dieser Zeit entstehen Freundschaften und Verbindungen, die Schwester Helga Schöller prägen. Auch die Gegenbesuche der Thüringer waren herzlich und für Schwester Helga eine willkommene Abwechslung: "Wenn wir in Württemberg eine Synodaltagung hatten, wurden oft Leute aus der DDR eingeladen. Ich hatte dann die Aufgabe, mich um die Ostbesucher zu kümmern."

Und auch die Auslandsreisen der umtriebigen Diakonisse nehmen in dieser Zeit zu. Mit Delegationen der Landessynode besucht sie unter anderem Württemberger im Sudan, in Kamerun und Indonesien. Sie macht sich vor Ort ein Bild über die Zustände und entscheidet für sich, dass der Weg ohne längeren Auslandsaufenthalt doch der Richtige war. "Für mich wäre es nichts gewesen, dort zu arbeiten. Die schweren Lebensumstände dort machten mir immer wieder zu schaffen."

Als Oberin in Eisenach

1994 wird Schwester Helga Schöller zur Oberin des Eisenacher Diakonissenmutterhauses berufen. Sie, die erfolgreiche und erfahrene West-Diakonisse, kommt in die thüringische Kleinstadt, um die etwa 30 Mitschwestern anzuleiten. "Der liebe Gott hat mir kein Briefle vom Himmel geschickt, aber mir wurde klar, dass das meine neue Aufgabe ist", sagt Schwester Helga sich heute.
Doch diese Aufgabe geht zunächst mit einer gewissen Umgewöhnung einher. So wie der DDR viele Neuerungen fremd waren, so auch den Diakonissen. Wurde in der Bundesrepublik schon seit einigen Jahren mit Computern gearbeitet, gestaltet sich die Datenverarbeitung in Westthüringen noch handschriftlich. Telefone sind Mangelware, und Helga Schöller erinnert sich, dass sich meist drei oder vier Verantwortliche einen Apparat teilten. "Wir haben hier schon einige harte Stunden gehabt." Vieles habe neu organisiert werden müssen, Gesellschaftsformen wechselten im Laufe der Jahre, und von den einst 30 Diakonissen leben heute noch neun im Eisenacher Mutterhaus.

Die Motivation ist das Miteinander

Die Seelsorge ist Helga Schöller bis heute wichtig. "Die Arbeit mit Menschen macht mir einfach Spaß, und es ist mir wichtig, ihnen in schweren Stunden zu helfen", sagt sie. Zur Not auch zusammen mit der Polizei. Ihre Freundschaft zur Eisenacher Stadtpolizistin Erika Herrmanns prägte dies. "Wir haben uns immer gut verstanden, und wenn sie Unterstützung brauchte, dann war ich dabei." Selten sei es dabei um große Konflikte gegangen. Meist brauchten die Betroffenen einfach jemanden zum Reden. Hin und wieder seien die beiden dann auch einmal gemeinsam im Streifenwagen unterwegs gewesen. "Eine Schwester im Polizeiauto – was war das für eine ungewöhnliche Erscheinung!"

Im Jahr 2000 erhält sie den Verdienstorden des Landes Thüringen, bereits sieben Jahre zuvor das Goldene Kronenkreuz in Anerkennung ihres diakonischen Wirkens. Doch den Ansporn für ihre Tätigkeiten ziehe sie nicht aus Ehrungen, sondern aus ihrem Glauben und dem gesellschaftlichen Miteinander.

Nicht ohne Stolz berichtet sie, dass ihr und ihren Mitschwestern bis heute großer Respekt entgegengebracht werde: "Die Menschen machen das aber nicht, weil wir in der Nachfolge Christi handeln, sondern weil sie wissen, dass Diakonissen anderen etwas Gutes tun." Trotzdem ist das Ende der Eisenacher Diakonissengemeinschaft absehbar. Nur noch wenige Frauen leben in Tracht und nach den Evangelischen Räten im Mutterhaus, neue Schwestern werden nicht mehr aufgenommen. Für Schwester Helga eine nachvollziehbare Entscheidung: "Die alte Diakonissenschaft gibt es nicht mehr, und auch die Gesellschaft hat sich verändert." Die Art der Emanzipation durch eine Schwesterngemeinschaft brauche es heute nicht mehr; Frauen könnten heute selbstbestimmt und ohne Bindung an starre Rollenmuster handeln.
Was einmal aus dem unverbauten Wartburgblick und der Wohnung wird, ist noch nicht abzusehen.

Autor:

Paul-Philipp Braun

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