Verhüllung und Kontextualisierung
Judenfeindlicher Wasserspeier in Calbe

Foto: Ev. Kirchenkreis Egeln
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Mit einer würdigen Gedenkstunde an der St.-Stephani-Kirche Calbe (Saale) wurde am Buß- und Bettag ein Zeichen im Umgang mit dem judenfeindlichen Wasserspeier an der Kirchenfassade gesetzt: Eine kontextualisierende Informationstafel sowie die symbolische Teilverhüllung der Schmähplastik sollen die Auseinandersetzung mit judenfeindlichen Bildtraditionen sichtbar machen und zugleich einen verantwortungsvollen öffentlichen Diskurs fördern.

Am 19. November 2025 lud die evangelische Kirchengemeinde Calbe (Saale) gemeinsam mit dem Evangelischen Kirchenkreis Egeln zu einer Gedenkstunde an der St.-Stephani-Kirche ein. Im Mittelpunkt stand die Anbringung einer Gedenktafel am Fuß des Strebepfeilers, der eine judenfeindliche Figur trägt. Diese wurde nun von einem Künstler durch eine Installation aus einem Metallgeflecht aus Ölbaumzweigen teilweise verhüllt. Dieser Entscheidung ging ein fünfjähriger, intensiver Prozess voraus, der unter anderem von der Evangelischen Akademie Sachsen-Anhalt begleitet und vertieft wurde:
Getragen von der gemeinsamen Einsicht, dass ein verantwortungsvoller Umgang mit judenfeindlichen Darstellungen weder in einer unreflektierten Tradierung noch in deren vollständiger Entfernung aus dem öffentlichen Raum bestehen kann. Beide Wege würden der historischen Verantwortung und der ethischen Verpflichtung der Gegenwart nicht gerecht.
Die gewählte Form der partiellen Verhüllung erzeugt hingegen ein Objekt, bei dem Sichtbarkeit und Verdeckung und ein Zeichen der Bitte um Versöhnung für den Betrachter in ein gut austariertes Beziehungsgefüge treten sollen. Doch selbst wenn der Titel der Installation "Befriedung" suggeriert, es sei ein abschließender Punkt gesetzt worden, verstehen viele das Werk als eine Etappe auf einem fortdauernden Weg.
Die Gedenktafel informiert zur Absicht der Verhüllung: "Die Installation ... bedeckt nun diese Skulptur mit Ölzweigen. So überformt ein christliches und zugleich auch jüdisches Symbol des Friedens dieses frühere Sinnbild des Hasses."

Gemeinsames Grundanliegen: Sichtbarkeit und Verhüllung – Verantwortung und Erklärung

Alle Rednerinnen und Redner – Dr. Liane Hilfert, Bischöfin Bettina Schlauraff, Superintendent Matthias Porzelle, Künstler Thomas Leu, Landesrabbiner Daniel Fabian und Bürgermeister Sven Hause – betonten die Notwendigkeit, Verantwortung für die judenfeindliche Bildsprache der historischen Figur zu übernehmen. Einig waren sie sich darin, dass die Schmähplastik nicht unkommentiert bleiben darf und eines bewussten, transparenten Umgangs bedarf, der die Würde der jüdischen Gemeinschaft achtet.

Während Dr. Hilfert vor allem den gemeinschaftlichen Prozess hervorhob, rückten die übrigen Redner die Verantwortung stärker in historische, theologische oder gesellschaftliche Zusammenhänge.
Bischöfin Schlauraff betonte in ihrer Ansprache die persönliche Betroffenheit und die moralische Dimension des Themas. Ihr Leitmotiv war die Spannung zwischen Sichtbarmachen und Verbergen, die sie als zentrale ethische Herausforderung beschrieb. Superintendent Porzelle setzte einen wissenschaftlich-historischen Schwerpunkt: Er erläuterte die Bild- und Mentalitätsgeschichte antisemitischer Darstellungen und verwies auf deren Kontinuitäten bis in die Neuzeit. Die Schmähfigur sei ein Beispiel dafür, wie theologische Diskurse antisemitische Muster über Jahrhunderte hinweg verstärken konnten.
Der hallesche Künstler Thomas Leu, Schöpfer der Verhüllungsinstallation, brachte eine praktische und existenzielle Perspektive ein. Er sprach vom emotionalen Gewicht des Auftrags, der ihn zunächst überforderte, und vom Ringen darum, Kunst als Raum für Öffnung, Gespräch und Sensibilität zu gestalten.

Während Kirchengemeinde, Bischöfin Schlauraff und Superintendent Porzelle die Teilverhüllung als tragfähigen und achtsam austarierten Kompromiss zwischen Denkmalschutz, seelsorglicher Verantwortung und öffentlicher Sensibilität betrachteten, äußerte Landesrabbiner Daniel Fabian offene Skepsis. Für ihn ist die Verhüllung keine ideale Lösung; er hätte eine vollständige Abnahme und Kontextualisierung an einem anderen Ort bevorzugt. Dennoch würdigte er, dass die nun gewählte Form die Schmähbotschaft bricht und neu rahmt – ein wichtiger Schritt, wenn auch nicht der abschließende. Während Porzelle und Schlauraff die historische Schuld betonten, lenkte Fabian den Blick auf den fortdauernden Verletzungscharakter solcher Darstellungen und markierte damit die bestehende Lücke zwischen kirchlicher Selbstreflexion und jüdischer Erfahrung.
Bürgermeister Sven Hause ergänzte die kommunale Perspektive. Er erinnerte an die bundesweite Aufmerksamkeit im Jahr 2019 und an die Frage, wie einer solchen öffentlichen Erwartungshaltung gerecht zu werden sei. Den nun erreichten Schritt würdigte er als verantwortungsbewusstes kommunalpolitisches Signal.
Superintendent Porzelle sprach zudem dem Gemeindekirchenrat seinen Dank für dessen Mut aus sowie den Förderern – der Ostdeutschen Sparkassenstiftung und der Kulturförderung des Landes Sachsen-Anhalt – für die finanzielle Unterstützung.

Der Einladung zur Einweihung folgten zahlreiche Wegbegleiterinnen und Wegbegleiter des Entscheidungsprozesses: Christoph Maier und Vincent Kleinbub von der Evangelischen Akademie Sachsen-Anhalt, die Kunsthistorikerin und Kirchenkonservatorin Dr. Bettina Seyderhelm, Pfarrerin Saskia Lieske als Vorsitzende der Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit Sachsen-Anhalt e.V., Susann Behre, Kirchbaureferentin im Kirchenkreis Egeln, Lena Blessing von der Ostdeutschen Sparkassenstiftung, Stephan König von der Stiftung Salzlandsparkasse sowie Vertreter der Kirchengemeinde und des Heimatvereins und der Stadtverwaltung Calbe (Saale).
Musikalisch begleitet wurde die Veranstaltung von Jan Michael Horstmann, Chefdirigent und musikalischer Leiter der Mitteldeutschen Kammerphilharmonie, der nachdenkliche jüdische Melodien auf einem E-Flügel erklingen ließ.
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In Sachsen-Anhalt gibt es laut dem Projekt „sus et iudaei“ vier „Judensau“-Schmähplastiken: Neben Calbe auch in Wittenberg, Magdeburg und Zerbst.
In Wittenberg wurde das seit Jahrhunderten an der Stadtkirche befindliche antijüdische „Judensau“-Relief hingegen nicht verhüllt und als Mahnmal verstanden. Stadt und Kirche distanzieren sich klar von Antisemitismus, haben erläuternde Informationstafeln ergänzt und eine ausdrückliche Bitte um Vergebung gegenüber dem jüdischen Volk formuliert.

Siehe auch:
https://www.instagram.com/p/DRP1bZ5Cq_Z/
https://www.ardmediathek.de/video/mdr-sachsen-anhalt-heute/teilverhuellung-von-judenfeindlichem-wasserspeier-in-calbe/mdr/Y3JpZDovL21kci5kZS9iZWl0cmFnL2Ntcy80MGIyZGNlYy02ZmNlLTQxYjAtYjdkMC0yNjBhYTQyN2RjYzI
https://www.kirchenkreis-egeln.de/kontakt/aktuelles/steine-des-anstosses-vortragsreihe-in-calbe-thematisiert-judenfeindschaft-im-19-jahrhundert.html
https://www.kirchenkreis-egeln.de/kontakt/aktuelles/kirchengemeinde-calbe-umgang-mit-der-judenfeindlichen-schmahplastik-an-der-st-stephani-kirche.html

Foto: Ev. Kirchenkreis Egeln
Ölzweig-Verhüllung | Foto: Thomas Leu
GKR-Vorsitzende Dr. Liane Hilfert
Superintendent Matthisa Porzelle | Foto: Ev. Kirchenkreis Egeln
Bürgermeister Sven Hause | Foto: Ev. Kirchenkreis Egeln
Informationstafel  | Foto: Ev. Kirchenkreis Egeln
Autor:

Annett Bohse-Sonntag

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