Mit einer Karte fing alles an: »Gott ist immer schon vor dir da«

Halle-Neustadt: Die Kirchengemeinde in der einstigen Chemiearbeiterstadt feiert ihr 50-jähriges Bestehen

Von Katja Schmidtke

Aus dem Boden gestampft: Seit Juli 1964 wurde Halle-West der Saale-Aue abgerungen. Eine moderne, sozia­listische Stadt für die Chemiearbeiter in Leuna und Buna sollte entstehen. Quasi aus dem Nichts entstand drei Jahre nach der Grundsteinlegung ein ganz neues, ganz anderes Haus: Entgegen aller Erwartungen der Planer fanden sich in Halle-Neustadt (Ha-Neu)Menschen unter dem Dach Gottes zusammen, am 1. August 1967 gründete sich die evangelische Gemeinde.
»Gott ist immer schon vor dir da« stand auf den Karten, die die ersten Haupt- und Ehrenamtlichen den kirchlich interessierten Bewohnern bei einem Hausbesuch überreichten. So sammelten sich die Christen: Drei Jahre nach Gründung zählte man mehr als 1 300 Gemeindeglieder. In mühevoller Arbeit sanierten sie die Passendorfer Kirche und schufen Gemeinderäume. An die erste Begegnung mit Pfarrer Peter Heyroth erinnert sich Gemeindeglied Ursula Zechner in der Festschrift: »(…) ein junger Mann in Gummistiefeln und mit Schubkarre kam mir entgegen«. Aufbauarbeit, sprichwörtlich und im übertragenen Sinne. Eine lebendige Gemeinde sucht in der neuen Stadt nach neuen Wegen des Glaubens und Miteinanders.
»Es ist bewegend, wenn ich Stimmen höre, die im Rückblick diese Gemeinde als prägend für ihr Christsein, als Heimat und wichtigen Lebensort erfahren haben. Aber auch Enttäuschungen, Konflikte und das Scheitern von Zusammenarbeit gehören in das Gemeindegedächtnis, eben weil wir Menschen und keine Heiligen waren und sind«, schildert Pfarrerin Regina Weihe.
Sie erinnert sich an gemischte Gefühle, die an die Oberfläche traten, als 2013 eine Ausstellung zur Offenen Jugendarbeit gezeigt wurde. Von 1977 bis 1983 war Lothar Rochau Jugenddiakon in Ha-Neu, er bot unangepassten Jugendlichen eine Heimat, wurde 1983 verhaftet, zu drei Jahren Gefängnis verurteilt und im Dezember 1983 in die Bundesrepublik abgeschoben.
Ha-Neu hat sich verändert: Heute wohnen hier Menschen aus dem Bürgertum, viele einstige Forscher und Ingenieure, aber auch Arbeitslose, Migranten, Roma, an den Rand gedrängte Menschen. Der Südpark gilt als Problemviertel, in der »Mitteldeutschen Zeitung« beschrieben Einwohner ihr Viertel als Getto.
Einem steten Wandel ist auch die Kirchengemeinde unterworfen, der Mut zum Aufbruch ist geblieben. So hat sich die Gemeinde trotz der demografischen Entwicklung dazu entschieden, ein neues Gemeindezentrum zu errichten. »Mit der Eröffnung im September 2009 waren alle Zweifel wie weggeblasen«, schreibt Kirchenälteste Ruth Strecker in der Festschrift. Das Haus bietet Platz für Büros und Veranstaltungsräume. Herzstück ist ein Saal mit Wandbild samt Engel über Ha-Neu. Kindergruppen und Elterncafés, Familienfrühstücke, der Treff im Gemeindezentrum, das Begegnungscafé, Sprachkurse für Migranten, die Jugendarbeit und die Kantorei unter Tom Zierenberg mit vielen Chören (wenn auch kleiner als in den 1990er-Jahren unter dem unvergessenen Kantor Peter Burkhardt) prägen heute das Gemeindeleben.
2 000 evangelische Christen zählt das Kirchspiel, das Ha-Neu und die benachbarte Vorstadt Nietleben bilden, außerdem gehören die Dörfer Angersdorf und Zscherben zum Gemeindebereich. Neben Pfarrerin Weihe arbeitet Heiner Urmoneit auf einer halben Pfarrstelle, das hat die Kreissynode 2012 beschlossen. Die Gegenwart sei heute bunter und vielfältiger, als man sich vor fünf Jahren hätte vorstellen können, so Regina Weihe. Als die ehemalige Chemiearbeiterstadt – seit der Wende ein Stadtteil von Halle – 2014 ihren 50. Geburtstag feierte, war die Kirche ganz selbstverständlich dabei. Das hätten die alten Herren im Politbüro wohl nie für möglich gehalten. Gott war schon vor ihnen da und bleibt es auch.

Autor:

Kirchenzeitungsredaktion EKM Nord

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