Fakten und gefühlte Wirklichkeit

Ein Riss geht durch die Gesellschaft, deshalb müsse man miteinander sprechen.
So wird allenthalben gefordert. In Gera redet man regelmäßig. Auch mit der AfD.
Von Harald Krille

Das Lutherhaus in Gera: Die Luft ist schwül, der typischen Geruch eines kirchlichen Gemeindesaales steigt in die Nase. Mit rund 70 Personen ist der Raum gut gefüllt. An der Seite ein Kruzifix, vorn eine Bühne, deren roter Vorhang zugezogen ist. Davor an drei Tischen mit weißem Tischtuch auf Augenhöhe zum Publikum die Kontrahenten. Zur Linken: Stefan Möller, seines Zeichens Rechtsanwalt und Parlamentarischer Geschäftsführer der AfD-Fraktion im Thüringer Landtag. Zur Rechten: Rainer Kreuter, Polizeibeamter, Gewerkschafter und Landtagsabgeordneter der Partei Die Linke. Dazwischen, als »Fakten-Checker«, der ehemalige Direktor des Kriminologischen Forschungsinstituts Niedersachsen, Christian Pfeiffer, sowie Pfarrer Frank Hiddemann als Gastgeber und Moderator.
Es ist der mittlerweile dritte Gesprächsabend zu Politikfeldern der AfD, zu dem die Ökumenische Akademie Gera unter der Überschrift »Deutschland zuerst?« eingeladen hat. Der Abend widmet sich dem Thema »Ruhe und Ordnung! Innere Sicherheit oder äußere Freiheit?«. Besondere Brisanz erhält das Thema durch den aktuellen Mordfall an der 14-jährigen Susanna F. in Wiesbaden. Gerade kam die Nachricht, dass der tatverdächtige Iraker in seinem Heimatland von kurdischen Sicherheitskräften verhaftet wurde.
Den ersten Part hat der Kriminologe. Eloquent stellt der medienerprobte Pfeiffer die statistischen Fakten dar. In praktisch allen Bereichen der Kriminalität hat es von den 1990er-Jahren an einen Anstieg bis in die 2000er-Jahre hinein gegeben. Also in einer Zeit, in der es noch keine »Asylantenflut« in Deutschland gab. Seither verzeichnet die Kriminalstatistik eine deutliche Abnahme. Und selbst einer leichten Erhöhung im Jahr 2016, die man mit dem Zustrom fremder Menschen in Verbindung bringen kann, steht eine erneute deutliche Abnahme im Jahr 2017 gegenüber. So sank etwa Anzahl der polizeilich erfassten Sexualmorde von 39 im Jahr 1992 über 27 Fälle im Jahr 2002 und 19 im Jahr 2012 auf acht im Jahr 2017.
Doch Fakten sind das Eine. Das andere ist die mentale Wahrnehmung, die gefühlte Lage. Und die ist bestimmt von einigen grauenvollen Morden der letzten Monate, bei denen die Täter Ausländer, Asylbewerber waren. Selbiges gilt für andere Gewaltverbrechen. Pfeiffer nennt es die »deutlichere Sichtbarkeit von Flüchtlingsgewalt«, verbunden damit, dass gegenüber Ausländern auch bei geringeren Delikten die Anzeigebereitschaft höher liege.
Der Konflikt zwischen den realen Zahlen und der gefühlten Wirklichkeit zieht sich durch die ganze anschließende Diskussion im Podium wie später auch mit dem Publikum. Möller versteht es, das Empfinden der Menschen auf den Punkt zu bringen. Und immer wieder Zweifel an der Aussagekraft der Statistiken zu wecken.
Beispiel: Einbruchdiebstähle. Eine von ihm durchgeführte Umfrage unter Betrieben und Unternehmen im Umkreis von Erfurt habe ergeben, dass viele Betroffene inzwischen eine Anzeige für sinnlos hielten, weil die Aufklärungsquote äußerst gering sei. Viele Fälle würden somit überhaupt nicht in der Statistik auftauchen.
Pfeiffer wie Kreuter widersprechen. Verweisen darauf, dass die Statistiken der Versicherungsunternehmen die gleiche Tendenz aufzeigten. Und weil eine Anzeige Voraussetzung für eine Schadensregulierung ist, sei der Vorwurf unhaltbar.
Einig ist man sich links und rechts, dass mehr Polizisten und eine bessere Struktur sowie Ausrüstung der Polizei nötig sind. Während Pfeiffer in der Bildung einer der wichtigsten Säulen der Gewaltprävention sieht, ist Möller um markige Vorschläge nicht verlegen. So neben der ständig wiederholten Forderung, endlich die Grenzen zu schließen und zu kontrollieren, auch der Vorschlag, gewaltbereite Ausländer ohne Umstände in speziellen bewachten Lagern unterzubringen. Applaus ist ihm von einem Teil der Gäste sicher. Die Frage, wie solche Lager und Einweisungen ohne Gerichtsurteil mit rechtsstaatlichen Prinzipien vereinbar sind, bleibt freilich offen.
Die Diskussion wird stellenweise polemisch, von Hiddemann aber immer wieder energisch auf die Ebene der Argumente gebracht. Unmut macht sich unter etlichen Besuchern bemerkbar, als Pfeiffer auf die enorm wachsende Computerkriminalität verweist, auf Cyberangriffe auf Wirtschaft und Verwaltung, oder auf die wachsende Verbreitung unsäglicher Kinderpornografie im Netz. »Das ist nicht unser Thema«, ruft ein Mann im Publikum. Und Möller bestätigt: »Cyberkriminalität ist nicht das, was uns Angst macht.« Das seien vielmehr die spektakulären Tötungsdelikte der vergangenen Monate.
Ja, die Angst. Die ist es, die von Seiten der AfD aufgegriffen wird und die damit den Nerv vieler Menschen trifft. Das wird an diesem Abend deutlich. Aber auch, wie wichtig es ist, dieser Angst Tatsachen entgegenzustellen. Und wie wichtig es ist, nicht nur in Sonntagsreden das Gespräch über die politischen Gräben der Gesellschaft hinweg zu fordern, sondern es endlich zu führen. Der nächste Diskussionsabend in Gera steht fest: Am 24. August geht es um das Thema »Ehe natürlich! Zurück zur Familie oder Vielfalt der
Lebensformen?«.

www.oek-akademie-gera.de

Autor:

Online-Redaktion

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