Die riskante Freiheit der 68er

Eine lange Wartezeit: Seit ihrem 19. Lebensjahr hatte Elsie Baker darauf gehofft, im Alter von 85 Jahren wurde sie 1994 schließlich eine der ersten weiblichen Pfarrrerinnen der Church of England. Das Foto zeigt sie bei ihrer ersten Abendmahlsfeier, links im Bild der Autor des Beitrags Paul Oestreicher, rechts Pfarrer Peter Knapper, sein Nachfolger in der Himmelfahrtsgemeinde. | Foto: Church of the Ascension
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  • Eine lange Wartezeit: Seit ihrem 19. Lebensjahr hatte Elsie Baker darauf gehofft, im Alter von 85 Jahren wurde sie 1994 schließlich eine der ersten weiblichen Pfarrrerinnen der Church of England. Das Foto zeigt sie bei ihrer ersten Abendmahlsfeier, links im Bild der Autor des Beitrags Paul Oestreicher, rechts Pfarrer Peter Knapper, sein Nachfolger in der Himmelfahrtsgemeinde.
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Alles schien im Umbruch zu sein: Das Jahr 1968 war kein gewöhnliches. Es gab den Prager Frühling, die »Swinging Sixties« waren im vollen Schwung. Die King’s Road im Londoner Stadtteil Chelsea war für junge Europäer der Mittelpunkt der Welt, vergleichbar mit dem Prenzlauer Berg vierzig Jahre später.

Von Paul Oestreicher

Mein Vertrag als Osteuropa­referent des britischen Kirchenrates lief gerade aus. Für fünf Jahre hatten die Quäker diesen Posten finanziert. Dann drehten sie den Hahn zu. Ich wollte aber unbedingt weitermachen. Eine unerwartete Lösung bahnte sich an: John Robinson, Autor des Bestsellers »Honest to God«, auf Deutsch, »Gott ist Anders«, war Regionalbischof in London. Sein Buch bot sogar an den Stammtischen der Wirtshäuser Gesprächsstoff. Ein Bischof und ehemaliger Professor für Neues Testament tanzte theologisch und volkstümlich aus der Reihe. Das machte die Kirche endlich interessant. Sein Buch wurde in 17 Sprachen übersetzt. Tillich und Bonhoeffer hatten längst Ähnliches geschrieben, aber bei weitem nicht so für alle Welt verständlich.
Die kleinste Gemeinde des Bistums war vakant. Sie war dem Aussterben nahe: Die Himmelfahrtskirche in Blackheath war ein Kleinod. 1697 erbaut, war sie ursprünglich die Privatkapelle der Grafen von Dartmouth, Kommandanten der königlichen Marine-Akademie, am Rande vom Greenwich Park, der weltberühmten Sternwarte ganz nahe. Im Jahr 1883 wurde die Kapelle zur Gemeindekirche erhoben.
Ich übernahm die Pfarrstelle. In seiner Einführungspredigt nahm Bischof John Robinson die Freiheit des Christenmenschen zum Thema. »Fühle Dich hier frei, neue Wege zu gehen. Werde kein Pfarrherr. Das gehört nicht mehr in unsere Zeit. Baue ein Leitungsteam und gib Deine ökumenische Auslandsarbeit nicht auf. Pflege Deine deutschen Wurzeln. Lass ein neuartiges christliches Kulturzentrum entstehen.« Für mich und meine junge Familie war das wie ein Geschenk vom Himmel. Unser Leitbild: Die Gedanken sind frei!
Bald scharten sich andere dazu: ein Hochschulpfarrer der naheliegenden Universität, ein älterer Dozent für Neues Testament, der Eheberater des Bistums. Ein junger Theologe, der sich auf China spezialisierte, ein promovierter Theologe, aber Laie, Prädikant und Beamter im Entwicklungsministerium. Ein ziemlich schräger Pfarrer, der kein Blatt vor den Mund nahm (im Hauptberuf Steuerberater, der als einziger die Finanzen verstand) und ein experimentierfreudiger Musiklehrer. Last but not least, Deaconess Elsie Baker, eine ziemlich konservative, doch zugleich sanfte Streiterin für die damals noch nicht erreichte Frauenordination. Alles in allem ein bunter Haufen. An wechselvoller Erfahrung und oft sich widersprechendem Predigtstoff fehlte es nicht. Im Gemeindekirchenrat gab es keine Langeweile.
Mein erster Schritt war – entgegen aller Tradition – Deaconess Elsie zur Leiterin der Gemeindeseelsorge zu ernennen. Sie, die viel Erfahrenere, und nicht ich sollte Entscheidungsmacht bekommen. Ich konnte öfter guten Gewissens in Prag oder Kapstadt oder sonstwo sein – geweihte Priester, um die Messe zu feiern, gab es in Fülle. Zu allem anderen war Elsie ohne männliches Zutun befugt.
Auch ihr großer Tag sollte kommen, wenn auch Jahre später, nachdem sie schon im Ruhestand war: Der Bischof besuchte sie und sagte »Elsie, ich kann dich leider nicht zur Pfarrerin machen«. »Bischof, das erwarte ich auch nicht mehr, freue mich aber für die jungen Frauen, die es jetzt endlich dürfen«. »Elsie, du hast mich falsch verstanden. Gott hat dich längst zur Priesterin geweiht. Ich kann es aber liturgisch bestätigen.« Elsie wurde im 82. Lebensjahr zur allerältesten der anglikanischen Pfarrerinnen weltweit ordiniert.
Mit vielen Erneuerungen ging es weiter. In jedem Sinn des Wortes sollte dies eine offene Kirche sein. Jeder und jede sollte zu jeder Zeit zur »Himmelfahrt« einsteigen können. Der Kirchenrat beschloss, nicht leichtfertig, die ohnehin tagsüber offene Kirche niemals zu schließen – rund um die Uhr. Die Nachtstunden sollten einladen innezuhalten, still zu sein, zu beten oder in der Not auch zu schlafen. Die Eingangstür wurde verglast, der Altarraum beleuchtet. Das ewige Licht über dem Sakramentsschrank mit geweihtem Brot und Wein wurde nicht verschlossen. Jesus sperrt man nicht ein.
Das Risiko war nicht gering. Was ist wichtiger? Freier Zugang zum Haus Gottes oder der Schutz unserer weltlichen Schätze? In der dritten Nacht der offenen Kirche klingelte die Polizei am Pfarrhaus: »Dürfen wir Sie darauf aufmerksam machen, dass Sie vergessen haben, die Kirche zu schließen?« Ich war nicht zuhause. Meine Frau konnte den freundlichen Polizisten aufklären. »Alles ist in Ordnung: Das ist Absicht. Die Versicherung weiß Bescheid.«
Das Messing-Prozessionskreuz ist etwas später veschwunden. Wir ahnten, wer es gestohlen hatte. Es gelang dem Dieb aber nicht, das Kreuz im Althandel loszuwerden und er warf es in die Themse. Bei Ebbe fand es ein Bootsmann, brachte es der Polizei, die es der Kirche zurückbrachte. Der vermeintliche Dieb konnte seinen Augen nicht glauben. Bestimmt ein Wunder!
In jedem Milieu wäre das Experiment nicht unbedingt gelungen. Unser Kiez lag zwar in einem ruhigen Vorort, aber nicht weit entfernt von einer großen Armutssiedlung. In der kalten Jahreszeit sprach sich bald herum, dass hier niemand verscheucht wird.
Die Straße lag auf dem Weg von Canterbury in die Londoner Innenstadt. Es war ehemals ein Pilger- und Räuberweg. Die Landstreicher lernten schnell, hier läßt sich ruhig schlafen, niemals zu viele auf einmal. Manche blieben eine Nacht, manche eine Woche. Sie scheuten sich nicht, um eine Tasse Tee zum Frühstück am Pfarrhaus gegenüber zu bitten. Meine Frau und die Kinder fanden sie meist respektvoll und – vor allem, wenn sie Iren waren – mehr als gesprächsbereit. Das gehörte mit zum Familienalltag und forderte sowohl Humor als auch Geduld.
Nach ein paar Jahren war das Experiment zur Normalität geworden. Die kirchliche Versicherungsanstalt war unbesorgt. Einbrüche in geschlossenen Kirchen sind häufiger als in die offenen. Diebe finden ihre Wege, so oder so. Auch sie gehörten zum Gemeindebild. War das eine Modellgemeinde? Keineswegs. Es war ein Versuch.
Schon damals ging es nicht ohne unseren Einsatz gegen die rechten Extremisten. Als wir eine schwarze, aus Ghana eingewanderte Familie in Schutz nahmen, polemisierte die National Front gegen den »Roten Vikar« und störte die Sonntagsmesse so wie einst im 3. Reich Hitlers die SA. Statt die Polizei zu rufen, bot ich den Rassisten die Kanzel an. Mit solcher Freundlichkeit und Offenheit wussten sie nicht umzugehen.
Die Ältesten unter uns haben den bahnbrechenden, prophetischen Bischof John Robinson nicht vergessen. Gottes Liebe, das wusste er, ruft uns heute wie damals zu seiner riskanten Freiheit.

Eine lange Wartezeit: Seit ihrem 19. Lebensjahr hatte Elsie Baker darauf gehofft, im Alter von 85 Jahren wurde sie 1994 schließlich eine der ersten weiblichen Pfarrrerinnen der Church of England. Das Foto zeigt sie bei ihrer ersten Abendmahlsfeier, links im Bild der Autor des Beitrags Paul Oestreicher, rechts Pfarrer Peter Knapper, sein Nachfolger in der Himmelfahrtsgemeinde. | Foto: Church of the Ascension
Der 1931 in Meiningen geborene anglikanische Friedensaktivist Paul Oestreicher war Domkapitular und Leiter des Versöhnungszentrums der Kathedrale von Coventry in England. Er gründete unter anderem den »Dresden Trust«, der den britischen Anteil zum Wiederaufbau der Frauenkirche Dresden beisteuerte. Er ist Träger des Bundesverdienstkreuzes 1. Klasse und Ehrenbürger der Stadt Meiningen. | Foto: privat
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