Der Messias und das Evangelium
Auf der Suche nach der Kirchenmusik in einem Oratorium

Von Sebastian Saß

Es könnte eigentlich verhältnismäßig einfach sein oder jedenfalls so ablaufen wie immer: Man entscheidet sich als Kirchenmusiker unter Berücksichtigung der eigenen sowie der Leistungsfähigkeit seiner Chöre (finanzielle Erwägungen spielen auch eine Rolle) für ein größeres oratorisches Werk, besorgt sich die Partitur, lernt sie, probt mit den Chören und versucht, alle technischen und finanziellen Probleme zu lösen. Und dann hofft man, am Tag der Aufführung ein gutes Stück Kirchenmusik in einen beeindruckenden Kirchenraum so zu stellen, dass alles zusammen tiefer dringen kann als nur bis ans Trommelfell.

Meine Wahl fiel für das Jahr 2019 auf Händels Oratorium „Der Messias“ in der Bearbeitung von Wolfgang Amadeus Mozart. Ich hatte den Messias als Kind öfter auf Schallplatte gehört und ihn in der Mozart-Fassung einmal beim Studium mitgesungen; im Ohr waren von damals noch „Tröstet“, „Uns ist zum Heil ein Kind geboren“, das mozartmäßig herrliche Scheppern im Porzellanladen bei „Du zerschlägst sie“, natürlich das „Halleluja“, „Ich weiß, dass mein Erlöser lebet“ und das abschließende „Amen“. Ich besorgte also die Partitur und fing an zu lernen. Ich besorgte die Klavierauszüge und fing an, mit den Chören zu proben. Aber irgendetwas stimmte nicht: Der rote Faden des Oratoriums wollte mir einfach nicht behagen. Ich unterbrach das Partiturlernen und widmete mich intensiv dem Studium des Librettos. Und hier wurde sichtbar, womit ich haderte:

Ist dies Oratorium wirklich Kirchenmusik im Sinne von „Musik im Dienste des Evangeliums“?
Oder was wird hier (nebenbei noch) verhandelt?

In den drei Teilen des Oratoriums geht es um die Hoffnung des Volkes Israel auf den Messias und um den christlichen Glauben an die Erlösung durch Jesus, den Messias, den Christus. Meine Verständnisprobleme dem ganzen gegenüber waren diese:
Der zweite Teil, in dem es doch um die Passion Jesu und seine Auferstehung und damit um den zentralen Inhalt des Neuen Testaments geht, besteht (das „Halleluja“ ausgenommen) aus Texten des Alten Testaments. Selbst die wenigen Verse, die man dem Neuen zuordnen könnte, zitieren genau genommen Verse des Alten („Und alle, die ihn seh’n, verspotten ihn […] Er trauete Gott, dass der ihn befreite. Lasst Gott befreien ihn, wenn er ihm wohlgefällt.“).

Nur eine kurze Nummer erwähnt die Auferstehung Jesu (und auch hier mit einem Psalmzitat: „Doch du ließest ihn im Grabe nicht …“). Bei einer Aufführung sind dies von über 2 Stunden großartiger Musik vielleicht drei Minuten für das Zentrum des christlichen Glaubens!

Unverständlich aber war mir vor allem, warum der Librettist am Ende des zweiten Teils diese martialische Illustration christlicher Mission entwarf: „Der Herr gab das Wort. Groß war die Menge der Boten Gottes. | Wie lieblich ist der Boten Schritt, sie kündigen Frieden uns an […] Ihr Schall ging aus in jedes Land […] Warum entbrennen die Heiden und toben im Zorne […] Die Hölle steht auf zur Empörung wider den Herrn […] Der da wohnet im Himmel, er lachet ihrer Wut, der Herr, er spottet ihrer. | Du zerschlägst sie mit dem Eisenzepter, und du schlägst sie zu Scherben gleich des Töpfers Gefäßen. | Halleluja! Denn Gott der Herr regieret allmächtig!“

Ich hatte Probleme damit, dass Ostern so klein ausfällt, während ein „die Heiden“ zerschlagender allmächtiger Gott mit „Halleluja!“ gepriesen wird. Je länger ich mich mit dieser Textzusammenstellung beschäftigte, umso unverständlicher wurde sie mir: Was ist bloß los mit diesem Libretto und warum?!

Charles Jennens, Händels Librettist für vier oder fünf seiner Oratorien, war ein musikalisch und theologisch gebildeter Grundbesitzer und stellte seinen „Messias“ im Jahre 1741 für Händel zusammen. Zu dieser Zeit war das „Erste Britische Weltreich“ auf dem Höhepunkt seiner Macht. Kolonisierung, Kolonialkriege, Handel, Sklaverei waren die Wirtschaftsfaktoren. Der vom übrigen Europa getrennt beschrittene Weg der Reformation sowie die politischen und wirtschaftlichen Erfolge bestärkten das britische Selbstverständnis als „Gods own people“ und führten zu einer Identifikation mit dem Volk Israel (Händel schrieb mehr als zehn Oratorien zu Stoffen des Alten Testaments).

Der im 17. Jahrhundert entstandene Deismus – eine Glaubensrichtung, die Wunder, Prophezeiungen, Offenbarungen als kirchlichen Schwindel entlarven zu müssen meinte – stand in Blüte. All dies scheint durch das kunstvolle Gewebe des Messias-Librettos natürlich hindurch.

Jennens war fromm. Er versuchte (gewissermaßen als ein Anwalt des Alten Testaments), seinen Zeitgenossen aufzudecken, dass die alttestamentlichen Weissagungen glaubwürdig sind, weil sie ihre Erfüllung fanden in Jesu Geburt, Leiden, Sterben und Auferstehen. Dass das Neue Testament allen Hörern geläufig war, konnte er voraussetzen. Ihm ging es um eine Beweisführung zur Verlässlichkeit des Alten Testaments. Er warb um Vertrauen in Wunder, Prophezeiungen, Offenbarungen. Und er tat dies mit großem Geschick und in der Form einer meditativen und persönlichen Ansprache.

Charles Jennens nahm die Weltordnung des 18. Jahrhunderts als Beleg für einen göttlichen Weltenplan. Großbritannien gedieh durch militärische und wirtschaftliche Stärke, und ein Ende dessen war nicht zu befürchten. Das war für ihn Beweis, dass Gottes Augen ganz offensichtlich mit Wohlgefallen auf dem britischen Weltreich und der darin errichteten Ordnung ruhen (und damit natürlich auch auf der Art und Weise, wie diese Ordnung errichtet und aufrechterhalten wurde). „Rule, Britannia!“, die „heimliche Hymne“ Großbritanniens, entstand ein Jahr vor dem Messias: „… Dir gehört die Herrschaft über das Land, / Deine Städte sollen im Glanze des Handels strahlen; / Ganz dein soll sein das Meer als Untertan, / und jedes Gestade dein, das es umschließt. // Herrsche, Britannia! / Britannia beherrsche die Wellen; / Briten werden niemals Sklaven sein.“

Und Jennens schöpfte, so kann man ihn verstehen, aus seinem Standpunkt auf der Seite der Sieger die Hoffnung auf persönliche Erlösung. Der Glaube an die Auferstehung und die Erlösung erscheint im Messias als Konsequenz aus der Erkenntnis, dass Gottes Zusagen gelten und Gott Gehorsam schon hier und jetzt belohnt: man kann sich offenbar auf Gott verlassen und also wissen, „dass mein Erlöser lebet“.

Das berühmte „Halleluja“ des Messias steht genau genommen nicht am Ende des zweiten Teils des Oratoriums, in dem es um Jesu Leiden und Auferstehen und das Wirken seiner Jünger geht, sondern es ist der Schlusspunkt einer Argumentation im Sinne von: Wer sich der britischen Weltherrschaft widersetzt, sorgt für sein eigenes Leid. Denn frei nacherzählt könnten die Nummern 25 bis 33 (Mozart-Zählung) sich so lesen:
„25Der Auferstandene betritt die himmlische Herrlichkeit. Er wird von den Engeln empfangen, die ihn als absoluten Herrscher anerkennen. 26Entsprechend macht sich seine irdische Gefolgschaft auf, die neue Gottesherrschaft auf Erden zu verkünden und 28bis ans Ende der Welt auszuweiten. 27Zunächst geschieht dies noch friedlich und im Vertrauen auf die freudeverbreitende Botschaft vom ewigen Heil; als sich 29/30allerdings Widerstand bei den Heiden formiert, 31werden diese zerschlagen. 32Halleluja! Der Herr regiert nun alle und auf ewig! Halleluja! 33Ich weiß jetzt, dass mein Erlöser lebt.“

Nein, das ist kein Evangelium – eine frohe Botschaft klingt anders! Was kann ich tun?

Jennens traf seine Auswahl von Bibelstellen vor seinem theologischen und politischen Hintergrund und ordnete die Texte zu einer Aussage, die für seine Zeitgenossen zu treffen ihm wichtig war.

Will ich den Messias als ein Teil unseres kirchenmusikalischen Erbes musizierend pflegen, ergeben sich keine Probleme – die Zeit der Entstehung des Oratoriums sollte man natürlich auch als Gemeinde der Aufführung im Auge behalten können (zum Beispiel indem im Textheft darauf hingewiesen wird). Versuche ich aber, mit diesem Oratorium Evangelium für meine Zeit zum Klingen zu bringen, wird mir die übergroße Gewichtung der „siegreichen“ Missionsgeschichte gegenüber Ostern zum Problem, denn das „Halleluja“ hat wegen des zu groß geratenen Missions-Teils zu dem sehr klein ausfallenden Ostern keine Verbindung mehr; Ostern bleibt auf der Strecke, die großartigen (militärischen) Siege werden bejubelt.

Was kann ich also tun? Was muss ich tun für die Aufführung in meiner Kirche?
Als Mittel der ersten Wahl bot sich die Streichung der Nummern 25 bis 31 an, womit das „Halleluja“ unmittelbar an die Arie „Doch du ließest ihn im Grabe nicht“ rückte. So würde vielleicht auch im Messias Ostern werden können. Doch damit entfielen dann einige der stärksten Musiken, die Händel (auch für uns) komponierte!
Eine bessere Idee kam ins Spiel: die Umstellung des Librettos. Und je länger dieser Gedanke erwogen wurde, umso bestechender wurde er.

Es ist ja nicht so, dass in dem Oratorium kein Evangelium zu finden wäre; nur die Anordnung der Texte verstellt den Blick auf das, was noch und eigentlich in einem Werk mit dem Titel „Der Messias“ zu sagen wäre – zum Beispiel: „Selig sind, die Sanftmütigen; denn sie werden das Erdreich besitzen. Selig sind, die da hungert und dürstet nach Gerechtigkeit; denn sie sollen satt werden. Selig sind die Barmherzigen; denn sie werden Barmherzigkeit erlangen. […] Selig sind die Friedfertigen; denn sie werden Gottes Kinder heißen.“ (Mtth5,5ff)

Bei der Aufführung am 26. Mai in der Bernburger Schlosskirche St. Aegidien werden nun also die Nummern 26 bis 31 aus dem zweiten Teil herausgenommen und an den Anfang des Oratoriums, vor die Ouvertüre gesetzt werden: „26Der Herr gab das Wort. Groß war die Menge der Boten Gottes. | 27Wie lieblich ist der Boten Schritt, sie kündigen Frieden uns an; sie bringen freudige Botschaft vom Heil, das ewig ist. | 28Ihr Schall ging aus in jedes Land und ihr Wort bis an das Ende der Welt. | 29Warum entbrennen die Heiden und toben im Zorne, und warum halten die Völker stolzen Rat? Die Hölle steht auf zur Empörung wider den Herrn und wider seinen Gesalbten. | 30Brecht entzwei die Ketten alle und schüttelt ab dies Joch von euch! | Der da wohnet im Himmel, er lachet ihrer Wut, der Herr, er spottet ihrer. | 31Du zerschlägst sie mit dem Eisenzepter, und du schlägst sie zu Scherben gleich des Töpfers Gefäßen.“
Der Johannes-Prolog klingt mit an („Im Anfang war das Wort […] In ihm war das Leben, und das Leben war das Licht der Menschen. Und das Licht scheint in der Finsternis, und die Finsternis hat’s nicht ergriffen. […] Er war in der Welt, und die Welt ist durch ihn gemacht; aber die Welt erkannte ihn nicht.“ Joh1,1-10) und es kommt damit dieser Teil des Librettos gewissermaßen in die vormessianische Zeit, wo er auch hingehört: Gott kann zerschlagen; er hat es getan, aber er tut es eben jetzt nicht mehr; denn jetzt ist die 1Overtura zu hören und „2Tröstet Zion! spricht eu’r Gott. Geht, ihr Friedensboten nach Jerusalem und predigt ihr, dass ihre Ritterschaft ein Ende hat, dass ihre Missetat vergeben ist!“ – Gott vergibt, so hoffe ich, er zerschlägt nicht mehr! Im Anschluss an die Auferstehungsarie „24Doch du ließest ihn im Grabe nicht“ erklingen der Chor „25Machet das Tor weit dem Herrn“ und das Rezitativ „Zu welchem von den Engeln hat er je gesagt: du bist mein Sohn, von Ewigkeit her bist du es!“, worauf dann das „32Halleluja“ folgt und damit Ostern gefeiert wird.

Eine solche Umstellung ist sicherlich ein gravierender Eingriff und vielleicht auch als solcher zu kritisieren, doch für meine Aufführung erscheint sie mir musikalisch durchaus vertretbar und vor allem theologisch geboten.

Sebastian Saß ist Kirchenmusiker an der Schlosskirche St. Aegidien in Bernburg und Kreiskirchenmusikwart für den Kirchenkreis Bernburg.

Autor:

Kirchenzeitungsredaktion EKM Nord

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