Wort zur Woche
Privilegiert! Wenn Nachdenken zur Dankbarkeit führt

Angela Fuhrmann, Pfarrerin in Gotha | Foto: privat
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Wem viel gegeben ist, bei dem wird man viel suchen; und wem viel anvertraut ist, von dem wird man umso mehr fordern.
Lukas 12, Vers 48b

Ihr müsst wissen: Ich bin privilegiert“, sagt er. Erstaunt schauen die Schüler – 16 oder 17 Jahre alt – auf den schmächtigen jungen Typ im ausgeblichenen T-Shirt da vorn. Für einen Moment ist es ganz still im Klassenraum. Dann zählt er seine Privilegien auf: „Ich bin ein Mann. Ich bin weiß. Ich lebe in Mitteleuropa und musste noch nie hungern. Und – dabei schlägt er sich auf den angehobenen Oberschenkel – bis auf das hier bin ich unversehrt.“ Die Stille weicht einem Schweigen. Dumpf klingt etwas nach, was anders klingen müsste … Fragende Gesichter …
Dann erzählt der Gast seine Geschichte. Dass er mit einem riesigen Tumor zur Welt gekommen ist. Und nach schweren Operationen dann doch mit einer Prothese laufen gelernt hat. Und nicht nur laufen! Die Schule fiel ihm leicht. Und auch der Blick hinter die Dinge. Irgendwann wollte er keine Bärchen-Wurst mehr essen, weil sie so gar nicht nach Tier-Liebe schmeckt. Irgendwann verschenkte er sein Geld, weil er sich einmal dabei erwischt hatte, wie er durch eine geschickte Strategie aus wenig viel gemacht hatte.
Und irgendwann brach er sein Studium erfolgreich ab. Weil er den Abschluss nicht brauchte, um das Leben zu leben, das ihn glücklich macht, in einer Kommune mit "foodsharing" und getragener Kleidung, mit kreativen Öko-Projekten und Vortrags-Reisen.
Der Gast redet leise und frei und mit vergnügtem Gesicht. Immer wieder mal erwähnt er auch den Mann aus Nazareth – aber eher nebenbei, ohne fromme Rhetorik. Die beiden Reli-Stunden verfliegen nur so.
Ich denke noch lange nach über meine Privilegien als weiße Frau in Mitteleuropa, ohne Tumor und mit gesunden Beinen. Wie viel mir gegeben ist in einem reichen Land und in unserer Kirche! Wie froh ich sein kann, dass meine Familie bisher von Hochwasser-Katastrophen und Erdrutschen verschont geblieben ist! Und wie viele Möglichkeiten mir anvertraut sind! Ich denke auch über den Mann aus Nazareth nach: Was sucht er aktuell bei mir? Was fordert er von mir?
Angela Fuhrmann, Pfarrerin in Gotha

Angela Fuhrmann, Pfarrerin in Gotha | Foto: privat
Autor:

Online-Redaktion

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