Predigttext
Lasst das Buch zu!

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Denn Liebe ist stark wie der Tod und Leidenschaft unwiderstehlich wie das Totenreich. Ihre Glut ist feurig und eine gewaltige Flamme.
Hohelied 8, Vers 6b

Von Andreas Müller

Lasst das Buch zu! Lasst es zu! Lasst es zu, dass euch das Buch berührt. Lasst es zu euch kommen, das Hohelied der Liebe. Lasst es zu, dass es in euch klingt und singt. Lasst es zu, dass es euch berührt, wie es mich berührt hat.
Von Zeile zu Zeile gleite ich. Von Seite zu Seite verliere ich mich. Zwischen bebenden Brüsten und honigsüßen Lippen. Mit Gazellen und Füchsen ziehe ich durch Gärten und Weinberge. Umwabert vom Duft kostbarer Salben sehe ich Freund und Freundin. Ich sehe, wie sie sich nach dem anderen verzehren, einander begehren, gemeinsam genießen, sich küssen und lieben. Ich spüre die Hitze der Nacht und die Wärme der Träume. Ich lasse dieses Buch zu.
Viel zu erotisch – sagen die einen. Das ist nur eine Allegorie auf das auserwählte Volk, die Braut Gottes – sagen die anderen. Ich sage: Lasst es zu! Lasst es zu, dass wenigstens diese beiden Verse aus dem 8. Kapitel einmal in sechs Jahren gepredigt werden. Lasst es zu, dass sich die Liebe Bahn bricht zwischen blühender Phantasie und phantastischen Blüten – sage ich. Denn „Stark wie der Tod ist die Liebe“ – dagegen ist doch nichts zu sagen. Das sagen sie doch alle: „Bis dass der Tod uns scheidet.“ Und eine starke Liebe brauchen wir. Gerade jetzt, wo der Tod um uns und in uns und durch uns immer stärker wird, brauchen wir eine starke Liebe. Also lasst es zu, dass euch diese Worte berühren. Denn es sind gute Worte, sage ich.
Ich? Wer ich bin? Ich bin niemand. Ein Nichts. Unbedeutend – aber nicht bedeutungslos. Ich bin der sanfte Nachklang und das leise Echo. Der Hall der Worte, die mich berührt haben: „Gott ist die Liebe; und wer in der Liebe bleibt, der bleibt in Gott und Gott in ihm.“ (1. Johannes 4, Vers 16). Ich bin nur der Schatten des Galiläers, der selbst gesagt hat: „Das ist mein Gebot, dass ihr euch untereinander liebt, wie ich euch liebe.“ (Johannes 15, Vers 12)
Übrigens: Montag ist Reformationstag. Gab es da nicht jemanden, der sagte: Sola fide („Allein durch den Glauben“), sola gratia („Allein durch Gnade“), solus Christus („Allein Christus“) und sola scriptura („Allein durch die Schrift“) – durch diese Schrift? Lasst das Buch zu!

Der Autor ist Pfarrer in Gernrode und Rieder.

Andreas Müller, Pfarrer in Gernrode und Rieder | Foto: Foto: Andreas Müller
Autor:

Online-Redaktion

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