Kleinod der Literaturgeschichte

Szene auf dem Markt: Kinder des Reit- und Fahrvereins Sankt Laurentius proben mit Professor Hans-Rüdiger Schwab für das Prozessionsspiel. Ein geduldiger Mitwirkender ist Hengst Paul. | Foto: Angela Stoye
  • Szene auf dem Markt: Kinder des Reit- und Fahrvereins Sankt Laurentius proben mit Professor Hans-Rüdiger Schwab für das Prozessionsspiel. Ein geduldiger Mitwirkender ist Hengst Paul.
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Neuauflage: Zerbst will Theatergeschichte schreiben. Knapp 500 Jahre nach der letzten Aufführung kommt in der Stadt ein mittelalterliches Prozessionsspiel auf die Bühne. Aber als Stück für unsere Zeit.

Von Angela Stoye

Gebeugt und langsam kommen sie näher, kennen nur ein Ziel: Die hoch aufgerichtete Gestalt, die mit einem Kästchen in der Hand dasteht. Bald ist sie eingekreist … Seit dem 9. August steht auf dem Markt in Zerbst eine Bühne. In den nächsten vier Wochen wird an dieser Stelle das geprobt, was vom 8. bis 10. September als Open-Air-Spektakel über die Bretter gehen soll: Mit dem Titel »Hört her, merkt auf, versteht!« wird das Zerbster Prozessionsspiel von 1507 multimedial neu inszeniert. Die Proben laufen schon länger, die heiße Phase hat soeben begonnen. Am 10. August probten die Kinder vom Reit- und Fahrverein Sankt Laurentius eine Szene aus dem Leben ihres Vereins-Namenspatrons, der im antiken Rom lebte. Laurentius starb als Märtyrer, weil er sich weigerte, den Schatz seiner Kirche dem Kaiser auszuliefern, und ihn stattdessen unter den römischen Armen und Kranken austeilte.
Die Laurentius-Szene ist eine von insgesamt 24, die im September zu sehen sein werden. Nicht nur 415 Erwachsene und Kinder machen bei dem Spiel mit, sondern auch neun Pferde. Die zweibeinigen Darsteller kommen aus Zerbst sowie zahlreichen Orten aus der näheren und weiteren Umgebung der anhaltischen Stadt. Der künstlerische Leiter und Regisseur, Professor Hans-Rüdiger Schwab, kommt aus Münster. Alle sind ehrenamtlich, aber mit großem Einsatz bei der Sache. Möglich wird die Aufführung nicht nur durch dieses Engagement, sondern auch durch finanzielle Förderung, etwa von Seiten des Landes Sachsen-Anhalt und der Ostdeutschen Sparkassenstiftung.
Fünf Jahre ist es her, seit das originale Fronleichnamsspiel im Zerbster Stadtarchiv wiederentdeckt wurde. Seit dem schweren Bombenangriff am 16. April 1945 galt die Handschrift als verloren. 1490 wurde das Spiel, das als eines der bedeutendsten spätmittelalterlichen Spiele im deutschsprachigen Raum gilt, in der Stadthistorie erstmals erwähnt. Zwischen 1507 und 1522 entwickelte es sich zum Großereignis mit bis zu 2 500 Mitwirkenden. »Damals spielten hauptsächlich Vertreter der Zünfte die Szenen. Heute sind es Menschen aus Vereinen, Chören oder Kirchengemeinden, die die historische Überlieferung in Szene setzen«, so Regisseur Hans-Rüdiger Schwab: »Vom enormen Engagement aller Laiendarsteller lebt die Aufführung.« Schwab verweist darauf, dass das Stück ein »Kleinod der deutschen Literaturgeschichte« sei. Nur eine Handvoll solcher Spiele sei überliefert, wiederaufgeführt keines. In Zerbst führe man es jedoch nicht eins zu eins wie im Mittelalter auf, als Prozession durch die Stadt, sondern auf einer Bühne vor der imposanten Ruine der Nikolaikirche. Außerdem seien die Fragen, die das Spiel aufwirft – etwa die nach Lebenssinn oder Hoffnung –
Fragen, die auch die Menschen von heute bewegten. Sie seien »ein wichtiger Grund, warum man sich auch heute darauf einlassen kann«.
Bürgermeister Andreas Dittmann lädt zum Besuch des Spieles vom 8. bis 10. September und des Begleitprogramms – bestehend aus Bollen- und Mittelaltermarkt, Stadtführungen, Sonderausstellung im Rathaus und ökumenischem Gottesdienst am
10. September – herzlich ein. »An diesem Wochenende kann es nur ein Ziel geben: Zerbst«, sagt er. Und sollte es regnen, sei für genügend Capes gesorgt. Denn: »Wir lassen niemanden im Regen stehen.«
Der katholische Pfarrer Hartmut Neuhaus und der Pressesprecher der Landeskirche Anhalts, Johannes Killyen, verwiesen auf das Engagement der Kirchengemeinden für das Spiel und das Festwochenende. So seien täglich um 17.30 Uhr ökumenische Andachten in der Bartholomäikirche geplant.
Am 10. September stehe ein ökumenischer Open-Air-Gottesdienst in St. Nicolai auf dem Programm.

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