Gegendenkmal zur Schmähplastik in Zerbst
Zeugnis des Hasses nicht unkommentiert lassen

Am Gegendenkmal: Kirchenpräsident Joachim Liebig, Bürgermeister Andreas Dittmann, Pfarrer Lutz-Michael Sylvester, Hans-Joachim Prager (v.l.) | Foto: Johannes Killyen / Ev. Landeskirche Anhalts
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  • Am Gegendenkmal: Kirchenpräsident Joachim Liebig, Bürgermeister Andreas Dittmann, Pfarrer Lutz-Michael Sylvester, Hans-Joachim Prager (v.l.)
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In Zerbst ist am heutigen Nachmittag ein Gegendenkmal zur Schmähskulptur der „Judensau“ an der Nicolairuine enthüllt und der Öffentlichkeit übergeben worden. Mit der Stele von Hans-Joachim Prager, einem Künstler aus Wernau in Baden-Württemberg, setzt die Kirchengemeinde St. Nicolai und St. Trinitatis der judenfeindlichen Hassbotschaft der mittelalterlichen Plastik eine Botschaft der Toleranz und Versöhnung entgegen.

Das Schmährelief befindet sich seit 1450 an einem Strebepfeiler der ehemals größten Kirche in Anhalt. St. Nicolai war im Zweiten Weltkrieg schwer beschädigt worden und ist heute eine gesicherte Ruine mit offenem Kirchenschiff. Das Gegendenkmal, das dem Lesepult in einer Synagoge nachempfunden ist und mehrere Inschriften trägt, wurde nun in unmittelbarer Nähe vor dem Schmährelief aufgestellt.

„Die Plastik verhöhnt und verunglimpft seit Jahrhunderten jüdische Menschen, jüdische Kultur und jüdisches Leben, das in Zerbst in der Zeit des Nationalsozialismus systematisch ausgelöscht wurde“, sagte Pfarrer Lutz-Michael Sylvester. „Die Schmähskulptur und ihre Bedeutung sind ein verabscheuungswürdiges und nicht tolerierbares Zeugnis des Hasses. Dies soll nicht länger unkommentiert bleiben.“

Der Gemeindekirchenrat der Kirchengemeinde St. Nicolai und St. Trinitatis Zerbst habe sich deshalb dafür entschieden, einen Gestaltungswettbewerb für die Errichtung eines Gegendenkmals auszuloben. Aus dem Wettbewerb, an dem sich zehn Künstlerinnen und Künstler beteiligten, ging der Entwurf von Hans-Joachim Prager als Sieger hervor.

Der Künstler betonte in Zerbst: „Mein Exponat soll dazu beitragen, dass dies ein Ort der Begegnung und Verständigung wird. Eine entscheidende Rolle bei der Gestaltung des Mahnmals spielte für mich die Überlegung, dass jeder Mensch, ungeachtet seiner Weltanschauung und Religion, an dieser Stelle spürt, dass er in seiner Individualität angenommen wird. Sich persönlich zum geschichtlichen- und zukünftigen Zeitgeschehen in Beziehung zu setzen, sich zu reflektieren, wäre es erstrebenswert, im „Wir“ eine gemeinsame Basis zu finden. Eine Basis, auf der wir die Welt ein bisschen menschlicher machen können.“

Der Zerbster Bürgermeister Andreas Dittmann sagte: „Wir können den Antisemitismus der vergangenen Jahrhunderte nicht ungeschehen machen, sondern müssen uns damit auseinandersetzen. Die Stele von Hans-Joachim Prager stellt sich der Hassbotschaft des Reliefs an St. Nicolai im tatsächlichen wie übertragenen Sinn entgegen. Damit wird auch an die wichtigen religiösen und kulturellen Wurzeln in unserer Stadt erinnert.“

Der Kirchenpräsident der Evangelischen Landeskirche Anhalts, Joachim Liebig, hob hervor: „Der Antisemitismus ist spätestens seit dem 4. Jahrhundert Teil der christlichen DNA. Mit dieser Schuld müssen wir umgehen und als Kirchen gerade heute immer wieder deutlich machen, dass vor Gott alle Menschen gleich und wertvoll sind. Wer das anzweifelt, stellt zugleich unser aller Zukunft in Frage.“ Liebig schloss eine Bitte um Vergebung für das von Christen verursachte Leid an jüdischen Menschen an.

Gegendenkmal
Die 125 Zentimeter hohe Stele „Reflexion“ von Hans-Joachim Prager hat einen Umfang von 60 x 60 Zentimetern. Sie besteht aus zwei Teilen, einem 50 Zentimeter hohen Granitsockel und einer aufgesetzten, 75 Zentimeter hohen Bronzehaube. Auf der Deckplatte sind die Worte zu lesen: „Wir – die wir hier stehen / Wir sind / Wir denken / Wir wirken / zusammen wir gehen.“ An der Stirnseite der Stele mahnt das Wort „Die Würde des Menschen ist unantastbar“ aus dem 1. Artikel des Grundgesetzes zu einem würdevollen Umgang mit allen Mitmenschen. Darunter werden die Namen der jüdischen Familien in Zerbst aufgeführt, die Opfer des Nationalsozialismus wurden und Stolpersteine in Zerbst erhalten haben. Auf dem Granitsockel des Mahnmals setzt der Satz „Gott schuf den Menschen nach seinem Bilde“ aus dem ersten Buch Mose die biblische Grundlage: Die Erzählung von der Gottesebenbildlichkeit des Menschen fixiert die unveräußerliche Würde des Menschen.

Arbeit der Jury
Die Jury zur Auswahl des Gegendenkmals bestand aus den Mitgliedern des Gemeindekirchenrates (GKR) der Kirchengemeinde St. Nicolai und St. Trinitatis Zerbst (Leitung: GKR-Vorsitzender Mario Gabler) sowie aus dem früheren Zerbster Kreisoberpfarrer, Oberkirchenrat i. R. Dietrich Franke, weiterhin aus einer Vertreterin des Stadtmuseums Zerbst, einem Vertreter des Förderkreises St. Nicolai und zwei Vertretern der Evangelischen Landeskirche Anhalts. Entschieden wurde in zwei Auswahlrunden unter zehn Wettbewerbsbeiträgen. Das Preisgeld für den Siegerentwurf lag bei 1.000 Euro, für die Entwürfe auf Platz 2 (Entwurf von Daniel Priese) und 3 (Entwurf von Bertram Till) sind je 500 EUR ausgereicht worden.

Künstler
Informationen zu Hans-Joachim Prager

Umsetzung
Das Gegendenkmal „Reflexion“ wurde von der Kunstgießerei Strassacker (Baden-Württemberg) und vom Zerbster Steinmetzbetrieb Keck hergestellt.

Geschichtlicher Hintergrund
1324 werden Juden erstmalig im Zerbster Schöffenbuch erwähnt. Ihre Wohnquartiere sind bis heute in den Straßennamen Jüdenstraße und Silberstraße nachweisbar. Um 1450 wurde in diesen Strebepfeiler der Kirche St. Nicolai Kirche das Relief einer sogenannten „Judensau“ eingearbeitet. Aus dieser Zeit findet man in zahlreichen Städten vergleichbare Schmähskulpturen. Zu sehen sind hier ein Schwein und Menschen (durch ihre spitzen Hüte als Juden zu erkennen), die u. a. an den Zitzen der Sau trinken. Es handelt sich um eine Verhöhnung, Ausgrenzung und Demütigung der jüdischen Menschen, für die das Schwein als unrein gilt. Der Zweck der Darstellung ist nicht abschließend geklärt: Sie konnte bedeuten, dass Juden keinen Handel auf den Markt treiben durften - oder dass Juden kein Wohnrecht in der Stadt hatten. Seit dem 15. Jahrhundert erscheint das Motiv der „Judensau“ als aggressive Karikatur und Schimpfwort. Nationalsozialisten griffen Bildmotiv und Schimpfwörter auf und verwendeten sie zur Hetze, Verleumdung und Bedrohung. Auch in Zerbst kam es zu gewalttätigen Übergriffen gegen jüdische Mitbürgerinnen und Mitbürger. Am 9. November 1938 wurde die Synagoge geschändet. Ende 1942 war die jüdische Gemeinde in Zerbst vernichtet.

Autor:

Johannes Killyen

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