„Lazarus, komm heraus“
Gedanken zum 16. Sonntag nach Trinitatis

„Jesus ging oft zu weit. Wohin aber hätte er sonst gehen sollen?“ Diese tiefsinnige Bemerkung stammt von Alison Louise Kennedy (*1965) und ist in Rüdiger Nehbergs Buch „Dem Mut ist keine Gefahr gewachsen” zu finden. Nehberg (1935-2020) war Konditor, überwiegend jedoch als Weltreisender mit Hang zur Provokation kritischer Überlebenssituationen unterwegs.

Warum eigentlich und wie rief Jesus die bereits in Verwesung übergegangene Leiche seines Freundes Lazarus ins Leben zurück? „Lazarus komm heraus!”  soll er zornig in die Gruft geschrien haben  - und da kam Lazarus heraus. Was weiter geschah, bleibt unerwähnt. Nur, dass die beiden Schwestern Martha und Maria überglücklich waren und alles Volk staunte. 
Die literarisch raffiniert konstruierte Erzählung aus dem Johannesevangelium (Kapitel 11) ist am 19. September als Frohe Botschaft in den Gottesdiensten zu hören.

Nichts wie hin also! Vorbereitend ein paar unorthodoxe Beobachtungen zur unglaublichsten Geschichte des Neuen Testaments. Jesus liebte den Lazarus, wird berichtet. Hat er sich mit dem Ruf: „Lazarus komm heraus!”  trotzdem vertan? Irgendwann nämlich muss Lazarus ja den Tod zum zweiten Mal schmecken. Wird es ihm bei diesem erneuten Sterben dann so ums Herze sein, „als ob es irgendwie nur noch gälte, das Standbein zu wechseln?” (Dürckheim).

Wir wissen natürlich - oder behaupten es einfach mal so - dass der HERR sich nicht vertan hat. Er ging einfach nur zu weit. Wohin sonst hätte er gehen sollen? Seinem Mut ist keine Gefahr gewachsen. Wer die Heiligen Texte jedoch allein mit dem sensus historicus betrachtet, hat die eigene Überlebensfreude an die tödliche  Langeweile verraten. Wie Leonid Andrejew zum Beispiel (1871 - 1919): Der beschreibt in seinem Roman „Lazarus”, was alles dem Fast-Verwesten in seinem weiterem Leben noch geschah: Niemand mehr vermochte dem Blick seiner Augen standzuhalten, welche die einsetzende Auflösung ihrer selbst hatten beobachten müssen. Andrejew stellt die provozierte Rückkehr aus der Gruft als relativen Missgriff Jesu dar.

Wir aber könnten uns gut vorstellen - und ich gebe zu, das ist ein einigermaßen gewagter Sprung – dass jemand, der den von Hegel so gelobten preußischen Staat ähnlich verehrt, wie Jesus den Lazarus liebte, erregt an dessen Gruft tritt, die Hände zum Trichter formt und tatsächlich in die Grube des zerfallenden Kunstwerkes und seiner verwesenden politischen Parteiungen  inständig so etwas wie ein Gebet flüstert: „Lazarus, komm heraus!” Vielleicht geschähe das Wunder des Unglaublichen. Damit wären wir dann nicht zu weit gegangen. Wohin würde das Ganze sonst führen?

Autor:

Matthias Schollmeyer

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