der Gleiter
Altes und neues von Leberecht Gottlieb (Teil 1)

auf dem Weg nach Neotanien ...

Nachdem eine böse Virenseuche die Bevölkerung des alten Erdplaneten demoralisiert und in Folge dessen alles Gemeinwesen mit wesentlichen Teilen von Kultur und Religion verwüstet danieder lagen, war es auch verhältnismäßig still um die Kirche geworden. Das sollte sich nun aber ändern! Da jedoch die Virenlast auf der Erde irreversibel immer weiter ins Enorme anwuchs, beschlossen die Überlebenswilligen, sich aus ihrer in eine andere Welt hinaus aufzumachen, um noch bewohnbare Gestade des Raumes in der Ferne auszukundschaften. Dort draußen wollte man die Zelte der Zivilisation neu - diesmal ganz! neu - aufschlagen.

Bei dieser anspruchsvollen Kampagne waren Kirchenleute an vorderster Front mit dabei. Zuerst wurde ein Schuldbekenntnis abgelegt, dass man wieder einmal nicht genug gedacht, gebetet und sich nicht ausreichend maskiert hatte. Gleich danach wurde flugs eine Steuerungsgruppe eingesetzt. Diesem Gremium gehörten hochrangige Spezialisten aus allen möglichen geisteswissenschaftlichen Disziplinen an. Die guten alten natural sciences gab es nicht mehr - sie waren zu dem heruntergekommen, was im 17. Jahrhundert einmal die lutherische Orthodoxie gewesen sein mochte. Aber keine Sorge - Hegels Weltgeist steigt auch weiterhin auf krummen Sprossen die Himmelsleiter kerzengrade empor.

Die Steuerungsgruppe entwarf einen genialen Masterplan. Da die ganze Geschichte, die hier berichtet werden wird, erst vom Jahre 2037 an spielt, hatte man es tatsächlich vermocht, bereits längst verstorbene Fachgenies, Spezialisten und universitäre Koryphäen mit Hilfe des bekannten zu Endor vermittels bunter und fabelhafter Künste praktizierenden Weibes bitten zu lassen, die Schirmherrschaft für das Pilotprojekt zu übernehmen (1.Sam 28). Die via endoris Befragten hatten ihre Unterstützung vom fernen Jenseits aus gegeben - „gern“ lautete ihre entgegenkommende Antwort. Einige theoretische Physiker, Epidemiologen aus der Zeit Robert Kochs, ein paar jesuitische Neothomisten und mein Freund der Paartherapeut Venzeslav Ducduc, der zugleich einige Semester als Raketenwissenschaftler dilettiert hatte, erklärten sich bereit, via endoplasmatische Teleportation zur Verfügung zu stehen. Somit bestand die Steuerungsgruppe aus sechs lebenden und sechs den Tod im Schattenreich bereits überlebt habenden „Personen”. Deren Namen werden aus Pietätsgründen nicht genannt. 

Man konnte bekanntlich bis vor Kurzem weder in die Vergangenheit reisen, um dort etwa Fledermäuse aus dem asiatischen Tartarusgebirge rechtzeitig unschädlich zu machen, noch vermochte man die Zukunft zu entern, um daselbst nachzuschauen, ob - und wenn ja, wie - die Hyperpandemie, welche das Schicksal der Erde so nachhaltig und zugleich nachteilig tangiert hatte, könnte beseitigt worden sein. Nun aber war doch ein Weg gefunden worden, die Raum/Zeit-Schranke ohne viel Schwierigkeiten zu überwinden. Es war zwar technisch noch nicht alles ganz sicher, noch nicht alles war geklärt - aber Not kennt kein Gebot. Ein Raumzeitgleiter war zusammengebaut worden und man suchte nun nur noch nach einer geeigneten Person, die das Gefährt ungeachtet aller Gefahren besteigen würde, um sich hinaus an die Ecken des Seins, an die Enden des Nichts, an die Schwelle des Abgrunds zum Unbekannten zu begeben. Dort sollte es liegen - jenes virenfreie Neotanien. Utopia galt es zu entdecken, mit dessen Koordinaten zurückzukehren - und damit einer Umsiedlung und Evakuierung der verbliebenen Erdlinge den Weg zu bereiten.

Bei der Ermittlung jener gesuchten Reise-Person legte die Steuerungsgruppe natürlich Wert auf Geschlechtergerechtigkeit. Die Angehörigen der Gruppe selber würden leider nicht mit in den Raumgleiter steigen können. Man hatte sich im Kirchenamt entschlossen, das in den fernen Erprobungsraum „Neotanien” zielende Unternehmen von einem unterirdischen Bunker aus zu lenken und zu leiten. Das war irgendwie auch verständlich. Nun suchte man nach lustigen Reisewilligen mit  abenteuerlicher Haltung, um die gefährliche Fahrt an die Ecken des Seins zu realisieren. Nachdem eine entsprechende Ausschreibung im Amtsblatt erschienen war und es einige Rückmeldungen gegeben hatte, entschied sich die Steuerungsgruppe für die Person des uralten Pfarrers i.R. Leberecht Gottlieb. Der hatte es vermocht, im Laufe seiner langen Dienstzeit die Brust unter dem Talar mit zahlreichen Meriten zu bedecken: Die kommunistische Gewalt rechts der Elbe gelegener Unrechtsstaaterei bestand er - mit Gottes Hilfe. Die meiste Zeit seines Lebens wirkte er in Mumplitz - einem kleinen Flecken im Sächsischen - gepredigt, getauft, gelehrt, konfirmiert, vermahnt, getraut und bestattet hatte Gottlieb daselbst.  Und auch jener nach der roten Zeit folgenden bunten Irr-und Wirwarrepoche konnte er samt allen ihren vielen Versuchungen und trotzen, wie weiland der Heilige Antonius in der Wüste.
Nach Ausrufung seines Ruhestandes hatte er als Emeritus noch hie und da Aushilfe geleitet und war dem Wort der Schrift immer gern und treu verbunden geblieben. Mit dem 75. Lebensjahr war er dann aber aus Sachsen in seine geistige Wahlheimat gewechselt und verzehrte nun seine Pension in einem Altersheim nahe des Tübinger Stifts. Mit seinen reichlich 80 Jahren war er nun schon aber auch eine Last für den Versorgungsfonds seiner Kirche geworden … Und so hatte eins das andere gegeben. Schließlich neigte die Fülle der für ihn sprechenden Fakten und Gründe die Waagschale diesem Manne sich zu. Er, Leberecht Gottlieb, war erwählt zur Reise an die Ecken des Seins, an die Enden des Nichts, an die Schwelle des Abgrunds zum Unbekannten.

In einem festlichen Entsendungsgottesdienst wurde er verabschiedet und zugleich für die wichtige Aufgabe präpariert. Dementsprechend spielte die Orgel jenen alten Kreuzfahrerchoral  IN GOTTES NAMEN FAHREN WIR - aus dem Evangelischen Gesangbuch (das es damals noch gab). Die Predigt, die im planetaren Fernsehfunk von Alexa übertragen wurde, war recht genial, sie bezog sich auf jenen aus der Apostelgeschichte entnommenen Traum des Heiligen Paulus, den man nach Macedonien gerufen hatte, um das Evangelium von Asien verlässlich auch nach Europa zu tragen.

Nun würde es aber bei der Reise Leberecht Gottliebs um viel größere Karten gehen als damals. Ein Land galt es zu finden, das noch nicht bekannt war. Das war das Schwierige und zugleich das Bannende an der ganzen Sache. Neotanien - das Land hinter allem Vorstellbaren, was es bis dato gegeben hatte. Der Abschied von Leberecht Gottlieb vollzog sich etwa genauso herzzerreißend, wie man Paulus seinerzeit in Milet verabschiedet hatte. Die Frauen hatten Kuchen gebacken und die Männer machten grimmige Witze. Leberecht Gottlieb stieg in den Raumgleiter und überflog noch einmal die Bedienungsanleitung, welche in verschiedenen Sprachen für ihn auf echtem Papier in sehr großer Schrift abgedruckt worden war, da er sich mit dem Bildschirm seines Augenleidens wegen nicht so gut mehr auskannte. Dann sagte er herzerfrischend nüchtern: „Machen wir es kurz, liebe Brüder und Schwestern! Wünscht mir Glück zu der Reise. Behüte euch Gott. Wir sehen uns in dieser oder jener anderen Welt!” Jetzt drückte er auf einen roten Knopf, dann auf einen gelben und einen grünen. Es gab ein kurzes knackendes Geräusch und gleich darauf sank der Gleiter nach links in die sogenannte Zukunft.

In den nächsten Beiträgen  (Feuilleton) erfahren wir, was der Pfarrer i.R. Leberecht Gottlieb auf seiner Reise an die Ecken des Seins, an die Enden des Nichts, an die Schwelle des Abgrunds zum Unbekannten alles erlebt hat. Und wie er auch zurückkehrt und alles gut wird.

Autor:

Matthias Schollmeyer

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