Grabwächter
Altes und neues von Leberecht Gottlieb (9)

Reise nach Neotania - am Morgen

… es waren die zwei Wächter des Grabes, die da in die Gruft herein spaziert gekommen waren. Sie ruckten an der Platte auf Leberechts Sargtrog ein wenig hin und her, so dass Licht eindrang und Leberecht deshalb auch ihr Gespräch belauschen konnte. Leberecht war froh, dass die Gruft sich ein wneig geöffnet hatte, zugleich aber auch befürchtete er allerlei. Deshalb zog er sich die Bastmatten wieder auf den Leib, um nicht entdeckt zu werden. Die beiden Grabeshüter unterhielten sich vermittels eines seltsamen Kauderwelschs aus Latein, Griechisch und aramäischem Dialekt, der in der Gegend um Jerusalem sich eingeschliffen haben musste. Leberecht verstand nicht alles. Deshalb geben wir hier nur das wieder, was er begriffen zu haben meinte:

Wächter 1 und Wächter 2: Coole Grotte. Supergrab ooch.
Wächter 1: Aba wat warn dat fürn Jeräusch ehm, dat wia von draußen jehöat ham? Klang so wie wat weiß ick wat. Eh guck ma - die Leiche von den jekreuzijten Typ is ja weg.
Wächter 2: Vollkomm weg, ach du meine Jüte - du krijjsd dih nih ein.
Hia eh - guck ma. Die Klamotten sind anjeschmolzn und janz heeß.
Wächter 1: Echt krass eh. Jeschmolzna Steen. Un hia, die Lumpn von dem Typ - och total anjesengd un vabrannt. Un det Jesicht is druff, wie von ehn Mala.
Wächter 2: Müssma dat meldn tun?
Wächter 1: Ick glob, wia müssn dat echt meldn tun. Hundatpro. 
Wächter 2: Hia, die Steene innen Trog sin echt wie jlasiert un jeleesat. Sin och noch echt wahm.
Wächter 1: Komm, wir haun die Platte von da drübn uf den Jekreuzijden sein Trog un sagn dann, da war wat -
Wächter 2: Ja, wat’n?
Wächter 1: Wat, na so wat, wat weeß denn ick denn. Wat Komisches oda so. Fass mit an die Klamotte an. 
Wächter 2: … man is dat ehn Trümma. Ick reiß mia ja die Niern los, Mann.
Wächter 1: Hia gucke ma. Da is Schrift druff un so wat von Zeichen ooch. Kannste dat lesen?
Wächter 2: Ick kann nich lesen, Mann. Du?
Wächter 1: Nö. Aba komisch sehn die Krakel schon aus, wa? Is ooch unhaimlich. Los - nix wie weg hia.
(beide ab nach draußen)

Leberecht wartet einige Minuten, dann steht er langsam auf und steigt aus dem Trog. Er reckt die Glieder und schaut sich in der Grotte um. Dabei bekommt er einen Riesenschreck. Sein Raumzeitgleiter, die „Purgatorio“, ist nicht mehr da. Weg. Verschwunden. Die Höhle ist leer, auf dem Haupttrog liegt jetzt „seine” Steinplatte mit der Schrift des Bergengrüngedichts in deutscher Zunge - das kann hier natürlich noch keiner lesen - nur er selbst. Im Osten beginnt sich bereits kaum merklich der Himmel zu röten. Eos, die rosenfingrige Göttin des beginnenden Tages zieht die Vorhänge von den Fenstern des Morgens und Leberecht tritt vor die Höhle. Er sieht die zwei Wächter nicht, die aber ihn. Sie schreien vor Schreck auf und machen sich eilig davon. Leberecht erschrickt nun ebenfalls und weicht wieder in das Grab zurück. Er setzt sich auf den Rand des Troges, in dem er so lange eingeschlossen gewesen war und zwickt sich in den Arm. Ja - es tut weh. Er ist also lebendig. Dann denkt er nach. Wahrscheinlich würden in wenigen Minuten die drei Frauen hier am Grabe angelangen, mit den alabasternen Vasen, in denen sie das Balsamierelixier zubereitet haben. Da - hört er nicht schon Schritte? Nein - er hat noch Zeit zu überlegen.

Der Christus - er hat sich wahrscheinlich mit dem Raumgleiter Purgatorio in eine andere Zeit begeben. Oder gar ganz in die Ewigkeit. Aber was ist denn Ewigkeit eigentlich. Der Gekreuzigte ist irgendwo in der Zeit als Nichtmehrgekreuzigter da - aber wo und wie? Oder ist er selbst, Leberecht Gottlieb, vielleicht sogar dieser Entrückte … Der Pfarrer i.R. wagt nicht, diesen theologischen Gedanken ganz zu Ende zu denken. Ist er womöglich selber Christus - aber wo ist dann der Gleiter, zu dem er ja noch den Zündschlüssel hat. Und weiter - ist das hier dann die Hölle, oder nur das Purgatorium oder sogar bereits der Himmel, allerdings in einer seiner abenteuerlichsten Varianten?

Dann kommen sie. Drei Frauen mit verheulten Gesichtern, bleich und völlig am Ende. Total fertig. Ihnen fallen die Elixierfläschchen wie auf Kommando aus den Händen, als sie Leberechts ansichtig werden. Dieser hat ja längst das verlodderte Kostüm des Barabbas ab- und den zweiten Raumanzug aus der „Purgatorio” angelegt. Schneeweißer teflonbesetzter Triverastoff. Die Frauen sind aufgeregt und schnattern durcheinander. Leberecht kennt die Ostergeschichten auswendig und gibt nun eine Mischung aus den Synoptikern und Johannes und apokryphen Berichten zum Besten. Er redet dabei bestes Koinegriechisch und spickt es mit ein paar lukanischen Gräzismen. Er sagte etwa Folgendes: „Fürchtet euch nicht, ihr lieben Weiber. Ich weiß - ihr sucht jemanden, der nicht hier ist. Er ist nicht mehr in der Menge den Toten. Sondern er ist in eine andere Welt gefahren - und geht uns sozusagen voraus. Ihr könnt ihm in der kommenden Zeit sicher begegnen. Sagt es den anderen. Denn, hat er es euch nicht selber schon immer verkündiget?” Als er seine Rede beendet hat, sieht er, wie die Frauen sich freuen und zugleich entsetzt sind. Sie renne davon - sie eilen dahin. Sie rufen dabei immerfort: „Ein Engel, ein Engel, ein Engel.” Dafür halten sie ihn wohl - er der alte Leberecht nun ein Engel. Wahrscheinlich haben die drei damit sogar Recht.

Aber wo ist der Leib des Herrn geblieben? Und wo der Zeitraumgleiter Purgatorio! Leberecht setzt sich wieder auf den Grabtrog, in dem er gelegen hatte und sieht nun auch noch Petrus kommen und den anderen Jünger. Er winkt nur müde ab, als die beiden ihn mit Fragen bedrängen und examinieren wollen. Dann spürt er, wie er offenbar langsam unsichtbar zu werden scheint, denn die Jünger wischen sich die Augen und versuchen nach ihm zu langen - dann sehen sie ihn schließlich offenbar nicht mehr und gehen davon. Dafür sieht aber Leberecht jetzt, wie in der Mitte der Höhle langsam sein Raumgleiter Purgatorio auftaucht. Als er nach ihm greift, seine Hand nach dorthin ausstreckt, wo der Gleiter sich manifestiert, fasst er in eine Art Schaumnebel, der aber von mit der Zeit immer fester wird. Leberecht steigt schließlich ein und zieht den Hebel zu sich und fährt vorsichtig ein wenig in die nächste Zukunft, etwa sieben Tage weit. Dort (oder dann) hält er an - er ist immer noch Leberecht, denn nur die Zeit war verstellt worden - nicht den Ort. Leberecht steigt mit klopfendem Herzen aus dem Gleiter - und sieht sich an einem See angekommen, auf dem Fischerboote fahren. Das ist der See Genezareth - ihr habt es euch sicher schon denken können …

In weiteren Beiträgen (siehe Feuilleton) erfahren wir bis zum Silvestertag, was der Pfarrer i.R. Leberecht Gottlieb auf seiner Reise an die Ecken des Seins und die Enden des Nichts erlebt hat. Wie er auch wieder zu uns zurückkehrt und am Ende alles gut wird …

Autor:

Matthias Schollmeyer

Webseite von Matthias Schollmeyer
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