septum
die Kunst der Selbstverletzung
- hochgeladen von Matthias Schollmeyer
Das Restaurant war halbleer, die Nachmittagsstimmung schob müde Schatten über die Tische. Zwei Männer saßen am Fenster. Der eine, ein Kultursoziologe, trank Kaffee, der andere, ein Lehrer, rührte mechanisch in seiner Suppe.
Soziologe:
Ich verstehe nicht, warum dich das so aufregt. Ein Septumring ist doch nur ein kleines Stück Metall, ein Zeichen. Zeichen waren immer wichtig. Man trägt, was man ist.
Lehrer:
Oder man verletzt sich, um zu zeigen, dass man überhaupt noch etwas fühlt. Dieses Loch durch die Nase – das ist doch der tragische Selbstversuch, ob Schmerz noch funktioniert.
Soziologe:
Aber Schmerz war immer Teil der Initiation. In alten Kulturen: Mutprobe, Zugehörigkeit, Erwachsenwerden.
Nur - wir haben das verlernt. Heute nennen wir jede Berührung, die mit Schmerzen einhergeht „Verstörung“. Dabei ist es nur Erinnerung daran, dass man einen Körper hat.
Lehrer:
Vielleicht. Aber warum muss man ihn öffentlich durchbohren, als wär’s ein Manifest? Ich habe früher Schüler gehabt, die meinten, sie würden mit einem Piercing gegen die Gesellschaft rebellieren. Nach zwei Wochen war es nur noch Deko. Nichts bleibt rebellisch, wenn man es im Spiegel zu oft sieht.
Soziologe:
Und du meinst, deine Hemdsärmel seien keine Deko? Der Mensch ist ein Tier, das sich selbst beschriftet. Früher mit Uniformen, heute mit Metall. Man will nur wissen, zu wem man gehört.
Lehrer:
Ich will zu niemandem gehören, der sich freiwillig verletzt.
Soziologe:
Dann gehörst du zu den Unverletzten. Das sind meist die Gefährlichsten. Er lachte leise, ein kontrolliertes, selbstzufriedenes Lachen, das auf der Serviette, die vor ihm lag, zerfiel. Der Lehrer sah zum Fenster hinaus. Eine Jugendliche ging vorbei, blass, mit einem winzigen silbernen Ring in der Nase, das Licht blitzte kurz darin auf.
Lehrer:
Sieh dir das an. Noch Kinder – und schon mit Metall im Gesicht. Als wollten sie sagen: Ich bin beschädigt, bevor ihr mir etwas antut.
Soziologe:
Oder: Ich bin bereit. Ich habe mich selbst markiert, bevor ihr mich markiert. Das ist der kleine Triumph über die Gesellschaft. Der eigene Schmerz als authentische Unterschrift.
Sie schwiegen. Der Kellner räumte Teller ab, stellte zwei Gläser Wasser hin. Draußen zogen Wolken auf, das Licht wurde bleich.
Lehrer:
Ich finde, es sieht nach Tierhaltung aus. Ring durch die Nase – das ist ein Viehzeichen, nichts anderes. Zivilisation bedeutet doch aber, dass man das nicht mehr tut.
Soziologe:
Zivilisation ist, dass man es freiwillig tut.
Er trank den Rest seines Kaffees, stand auf, legte Geld für beide auf den Teller. Sie gingen zur Tür, sprachen noch über Termine, über Wetter, über die Bahnverbindung.
Keiner von beiden hatte bemerkt, dass unter ihrem Tisch ein kleiner Metallring lag, rot verschmiert, ein Rest von getrocknetem Blut am Rand. Jemand musste ihn verloren haben, vielleicht in Eile, vielleicht in Reue? Vielleicht einfach nur verloren - ohne Grund.
Am Abend, als es kühler ward, am Abend kam die Putzfrau wieder und nahm den Ring vom Boden auf. Das Restaurant wurde gereinigt und das Licht gelöscht. Den Ring legte die Frau auf den Tresen. Und dort lag er noch lange Zeit – stiller Beweis, dass jedes Zeichen irgendwann seinen Träger verliert. Und nichts wirklich verloren geht ...
Autor:Matthias Schollmeyer |
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