der seltsame Besuch (III)
Abrahams Kinder (Lukas 16,19-31)

Gustave Doré - Dante und Beatrice schauen ins Empyreum

Zu jener Zeit, als das Wünschen nicht mehr half, die Tiere kaum noch sprechen konnten und der Herrgott nur ungern auf Erden wandelte, lebte ein Mann. Der hatte seine Sorgen kurzerhand weggeschickt. Deshalb ging es ihm besser als gut, sein Bankkonto wuchs jedes Jahr um etwa zehn Prozent, ohne dass er dafür auch nur einen Finger rühren musste. Weil er aus diesem Grund nichts Rechtes zu tun hatte, verlegte er sich aufs Geistige. Er las viele Bücher, besuchte Konzerte, hielt sich die ausgefallensten Zeitschriften und organisierte literarische Circles, auf denen Snacks und erlesene Weine gereicht wurden. In seinem Hause zu verkehren war erstrebenswert – und so gaben sich viele Menschen, die sich für bedeutend hielten, bei ihm die Klinke in die Hand. 


Und es war auch ein ganz anderer Mann, der bezog eine elende Rente zuzüglich Wohngeld und sah immer fern. Seine Kumpane kamen zu ihm und man trank HaSSeröder und aß dazu Big Macs. Dieser arme Teufel starb nun eines Tages unverhofft und seine Urne wurde auf der grünen Wiese beigesetzt, denn keiner wollte sein Grab zahlen bzw. es später pflegen.
 Der Mann mit dem Konto starb kurze Zeit später auch. Es wurden erschütterte Nachrufe verfasst und ein ansprechendes Grabmal ausgesucht und installiert.

Als sie nun beide im Schattenreich einander vorgestellt wurden – ein ururalter Schatten mit langem weißem altväterlichen Bart sagte zu ihnen: „Gestatten die Herrschaften, dass ich Sie einander vorstelle – wie heißen Sie eigentlich, meine Herren?“ konnten sie sich an ihre Namen nicht mehr erinnern. Da wies der Ururalte jedem eine Zahl zu. Dem Armen gab er die 35 und dem Reichen die 49.
Sie mussten nun ein gemeinsames Zimmer beziehen und sollten die nächsten 10.000 Jahre miteinander auskommen – bis zu einem sogenannten jüngsten Gericht, – wie es hieß.
Als sie ihr gemeinsames Zimmer bezogen hatten, schwiegen sie die ersten 400 Jahre eisern, denn sie hatten gleich bemerkt, dass sie unterschiedlichen Welten angehört hatten. Und da ist es schwer, auf einen gemeinsamen Nenner zu kommen. 35 schnarchte laut und roch stets und ständig nach Bier – auch hier gab es HaSSeröder (es gab hier übrigens alles). Er sah weiter fern – und 45 beschäftigte sich mit komplizierten Gedichten und versuchte eine allgemeine “Theorie von Allem” zu entwickeln. Und sie mieden einander, wie sie es schon zu Lebzeiten getan hatten.

Eines Tages standen sie jedoch wie auf Kommando zum selben Zeitpunkt auf, denn es war ihnen beiden schlichtweg tödlich langweilig geworden und sie fürchteten sich davor, obwohl sie bereits tot zu sein schienen, noch einmal und dieses Mal endgültig sterben zu müssen. Ewig die gleiche Welt mit HaSSeröder und Weltformelsuche – es war nicht mehr zum Aushalten. Und so traten sie hinaus aus ihrem Zimmer mitten in die Welt der Schatten hinein und gingen ein paar Jahre in der dort vorhandenen Scheinwirklichkeit mutig umher.
Sie sahen, wie ihnen der Ururalte, der sie einander vorgestellt, ihnen das Zimmer und die beiden Zahlen zugeteilt hatte, von Ferne winkte und ihnen etwas zuzurufen schien, aber sie konnten nicht verstehen was, denn er war sehr, sehr weit weg.
Notgedrungen begannen sie nun doch, sich miteinander zu unterhalten. 35 meinte, er hätte nie gedacht, dass da nach dem Tod noch etwas komme. Und er wiederholte immer wieder: „Ach ne – hätte ich nie gedacht. Alles Quatsch, habe ich gedacht.“ 45 dagegen berichtete , er hätte schon immer gewusst, dass es eine Hölle und einen Himmel gäbe. Was aber der Platz sein solle, an dem sie beide jetzt waren, wüsste er ganz und gar nicht. Es müsse so eine Art Läuterungsort sein. Eine Art Zwischenwelt. “Aber dann, – in diesem jüngsten Gericht wird endgültig entschieden, wo einer hinkommen wird: Himmel oder Hölle” sagte er. 
„Ich für meinen Teil“ meinte nun 35 „will weder hierhin noch dorthin – ich will einfach meine Ruhe haben. Genauso, wie nach zehn HaSSeröder, – lasst mich schlafen.“ Darauf wusste 45 nichts zu entgegnen. Er entwickelte also eine Theorie des Schlafs und nannte viele Werke aus der Musik- und Literaturgeschichte , in denen der Schlaf als Heilvorgang zum Thema gemacht worden war. 35 hörte mit einem halben Ohr zu.
Sie kamen jetzt öfter miteinander ins Gespräch und eines Tages genau im viertausendsten Jahr ihrer Bekanntschaft merkten sie, dass sie beide in derselben Stadt gelebt hatten und sogar in derselben Straße. Nämlich in Berlin neben der Lazaruskirche in der Marchlewskistraße. Der eine in einer Sozialwohnung und der andere in einer der alten Jugendstilvillen. Da staunten sie nicht schlecht. Und kamen sich irgendwie komisch vor und dadurch näher. Und je mehr sie miteinander zu erzählen fortfuhren, desto mehr bekamen sie miteinander zu tun.

Sie erinnerten sich beide z.B. noch sehr gut an die Sprengung dieser Kirche. Ja, sagten sie, das war doch am 12. September 1949. Warum sie sich so gut an die Sprengung der Lazaruskirche erinnern konnten? Na, weil sie genau an dem Tag ihres Geburtstags in Schutt und Asche fiel – 45 hatte damals 50. Geburtstag – denn er war am 12.9.1899 geboren worden. Und 35 war just an diesem Tag 44 geworden, denn er war 1905 geboren – auch am 12.September. “Dann sind wir ja nur sechs Jahre auseinander” sagte 45 zu 35. “Was ist schon Zeit” meinte der und sie schwiegen lange miteinander.

Sie fragten sich beide, einer den anderen, warum sie damals noch nichts miteinander zu tun gehabt hätten. Und dann einigten sie sich auf folgende Antwort: „Wir lebten jeder in seiner eigenen Welt, obwohl wir in der gleichen Zeit und Straße neben ein und derselben Kirche gewohnt haben.“
Eines Tages buken sie sich Pflaumen, die bekanntlich dort an dem Unterweltsfluss reichlich reifen. Sie wälzten sie zu diesem Behufe vorher in Bierteig, den sie sich zubereitet hatten mit dem HaSSeröder von Günther. “Nenne mich Günther” hatte nämlich Günther zu Dieter gesagt, denn sie hatten ihre sogenannten bürgerlichen Namen im Gedächtnis wiedergefunden.
Diese Küchlein gerieten nun derartig lecker, dass der Cerberus, jener Wachhund des Pluton im Reiche der Schatten, welcher zwar alle herein, aber niemals jemanden wieder hinausgelangen lässt, betört wurde und die beiden für einige HaSSeröder Bierteigbackpflaumen und um den Gesang der achten Pindarschen Ode laufen ließ, so dass sie zur Erde in ein neues Leben zurückgelangten.
Ja, – was denkt ihr! Groß war das Hallo, als sie wieder unter den Lebenden weilten. Aber natürlich glaubte man ihnen nicht, dass sie gestorben waren – so sind die Menschen eben. 
 
Spätestens aber als ihre Enkel einander heirateten, merkten sie, dass sie ja von der Zukunft her gesehen ein und demselben Fleisch und Blut angehören würden. Und wenn sie sich auch weiterhin nicht besonders sympathisch waren, hatten sie doch wenigstens Achtung voreinander. Sie hatten ein Geheimnis erspürt, das sie verband. Und hatten sich auf diese Art gemeinsam aus dem Schattenreich ihrer unterschiedlichen Milieus befreit.
 
Und jene gegenseitige Be-Achtung, fast möchte man es nicht für möglich halten – schlug auch auf andere über. Der Ururalte aber lächelte von fern den beiden zu und freute sich.

Autor:

Matthias Schollmeyer

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