Erfahrung
Volkstrauertag in dem Dorfe K.
- hochgeladen von Matthias Schollmeyer
Ich fahre am Volkstrauertag zu einem Gottesdienst hinaus auf´s Land. Die Kirche ist verschlossen. Ich habe seit einiger Zeit mir einen Schlüssel nachmachen lassen. Als ich die Tür geöffnet habe - begrüßen mich die Blumen von vor drei Monaten. Unsterblicher Lavendel. In K. ist nur noch selten Gottesdienst. Heute ist es kalt, -3 ° Celsius und früh um 08.30 Uhr. Das Dorf schläft, aber die Sonne ist wach. Es ist niemand gekommen. Ich gehe einen Feldweg in die Wiesen hinaus. Hier grasen braune Rinder und schauen mich erstaunt an. Ich pflücke ein paar bereifte Schilfstängel - denn heute ist Volkstrauertag. Das Schilf ist bei den antiken Griechen ein Zeichen dafür, dass dort, wo es zu finden ist, auch Poseidons Reich beginnt. Poseidon, der Bruder des Aides, der mangels Masse auch das Totenreich mit verwaltet. Ich wandere zurück. Es ist inzwischen bereits 08.23 Uhr. Der Kantor, sehe ich, ist gekommen. Die nette Flötistin ist auch dabei - beide tragen gerade die Truhenorgel von Kisselbach in den kleinen Kirchenraum. Die Sonne schaut durchs Ostfenster und färbt das bunte Glasfenster des leidenden Christus mit Thyrsosstab auf´s Allerfeinste. Ich stelle die grünen Schilfhalme in die Glasvase. Dann warten wir zu dritt bis 08.32 Uhr - und beschließen nach Hause zu fahren, denn es ist kalt - und der nächste Gottesdienst 3 Kilometer weiter westlich beginnt erst 10.00 Uhr. Das Land ist weit und das Kriegerdenkmal an der Südseite des Kirchleins schweigt die Namen der gefallenen Söhne des Ortes in die kalte Winterluft hinaus. Bevor ich ins Auto einsteige, sieht noch ein alter Mann nach dem Rechten. Da ist doch jemand an der Kirche gewesen? Ich sage: „Wir fahren wieder. Es ist heute keiner gekommen!“ Wobei das nicht ganz stimmt, denn der Mann ist ja zumindest in die Nähe der Kirche gekommen. Ich frage ihn, wie es geht. Das ist nun genau die Frage, die man alten Männern und Frauen stellen kann - aber nicht immer ist es gut. Bei ihm aber ist es sehr gut. Er hat ein neues Hüftgelenk bekommen. Ohne Betäubung. Es muss zwar alles noch richtig in Gang kommen, aber er ist zuversichtlich. Wir beide wünschen uns einen schönen Sonntag und tauschen noch die Jahreszahlen aus. Er ist mir altersmäßig 14 Jahre voraus. Der Kantor ist schon entschwunden. Ich starte auch. Die Sonne beginnt zu steigen und in der Kirche steht das grüne Schilf unter dem bunten Christusbild. Die Tafeln mit den Namen der Gefallenen aus dem ersten Weltkrieg schweigen. Denn es ist Volkstrauertag.
Autor:Matthias Schollmeyer |
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