Corona-Herbst
Mach die Maus

Farben, Wörter und Begegnungen sammeln: Generationen von Kindern kennen die Feldmaus Frederick, die sich und ihre Familie mit Vorräten besonderer Art über den Winter bringt. Das kann auch gegen eine Tristesse mit Epidemie-Vorzeichen eine gute Strategie sein.

Von Alexander Brüggemann

Herr, es ist Zeit. Der Sommer war sehr groß. Leg deinen Schatten auf die Sonnenuhren, und auf den Fluren lass die Winde los." Etwas von dieser melancholischen Stimmung aus Rainer Maria Rilkes Gedicht „Der Herbsttag“ hat der Maler und Schriftsteller Leo Lionni, 1910 als Sohn eines jüdischen Diamantschleifers und einer Opernsängerin in Amsterdam geboren und später in den USA aufgewachsen, in einem Meisterwerk der Kinderbücher des 20. Jahrhunderts verarbeitet. Voller Lebensweisheit, kann die Feldmaus „Frederick“ in diesen merkwürdigen Zeiten ein wertvoller Ratgeber sein. Denn die Corona-Pandemie kennen wir bislang eigentlich nur bei schönem Wetter. Wohl dem, der ein wenig für den dunklen Winter vorsorgt.
Frederick, eine Feldmaus mit freundlichem Schlafzimmerblick, lebt mit seinen Leuten in einer alten Mauer auf einem verlassenen Bauernhof. Im Spätsommer sammeln alle eifrig Vorräte für den Winter – nur Frederick nicht. Warum bloß sitzt er die ganze Zeit herum? Eine Zeitlang schaut sich die Familie das an – dann stellt sie ihn zur Rede. Verträumt antwortet Frederick, er sammle Sonnenstrahlen, Farben und Wörter für kalte, graue und lange Wintertage. Eine rätselhafte Antwort. Denn Lichtmangel-Depression oder Winterdepression (kurz SAD) war – obschon bereits in der Antike von Hippokrates beschrieben – im Erscheinungsjahr 1967 noch nicht wirklich Thema.
Heute weiß man: Neben bedrückter Stimmung, Reduzierung des Energie-niveaus und Ängstlichkeit kommen bei SAD für Depressionen untypische Symptome wie Kohlenhydrat-Heißhunger und größeres Schlafbedürfnis hinzu. Lange jedenfalls kommen die Mauermäuse mit ihren Vorräten durch den Winter. Doch zum Ende hin wird es eng. Nun schlägt die Stunde von Frederick; nun sind seine Vorräte dran. All die Sonnenstrahlen, die er gesammelt hat, sorgen im Nest für wohlige Wärme. Seine Farben lassen den grauen Spätwinter weniger trist erscheinen, und am Ende reimt er sogar seine warmen Worte. Die Familie ist begeistert.
In dieser Erntezeit kann es also besonders ratsam sein, beim Radfahren oder Spazierengehen Farben und Wörter zu sammeln, Geräusche und Gerüche. Und vor allem: Begegnungen. Wo Politiker derzeit bereits andeuten, im Fall weiter steigender Corona-Zahlen erneut größere Veranstaltungen und Familienfeiern zu untersagen, sollte das Motto lauten: Kontakte pflegen, die schon bald wieder schwieriger werden könnten. Und noch etwas könnte sich auszahlen: Hobbys und Projekte in petto halten, zumindest ein paar, die über mögliche drohende Langeweile und Eintönigkeit hinweghelfen könnten. Blumenzwiebeln und Samen für Balkon und Gartenarbeit einkaufen; Ideen und Materialien für Heimwerken, Basteln oder Handarbeiten besorgen; über praktische Ablagesysteme für Fotos, Kochrezepte, Akten und Korrespondenzen nachdenken. Entrümpelt sind Haus oder Wohnung schließlich noch vom Lockdown im sonnigen Frühjahr. Der nächste Winter aber kommt ganz bestimmt, so viel steht fest – ob mit oder ohne Corona.

(kna) 

Autor:

Online-Redaktion

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