Neue Präsidentin von "Brot für die Welt"
Mit wachen Augen durch die Welt

Von Möhlenwarf bis Südafrika: In der Welt zuhause ist die neue Präsidentin der Hilfswerke "Brot für die Welt" und Diakonie Katastrophenhilfe, Dagmar Pruin. | Foto: Foto: Hermann Bredehorst/Diakonie Katastrophenhilfe
  • Von Möhlenwarf bis Südafrika: In der Welt zuhause ist die neue Präsidentin der Hilfswerke "Brot für die Welt" und Diakonie Katastrophenhilfe, Dagmar Pruin.
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Porträt: Seit dem 1. März ist die Theologin Dagmar Pruin Chefin von Brot für die Welt. Alles begann mit der Urgroßmutter in ihrem ostfriesischen Heimatdorf Möhlenwarf. Was sie antreibt und woher sie kommt.

Von Bettina Röder

Es gibt diese Kindertage, die vergisst man nicht. Für Dagmar Pruin gehören die Stunden mit der Urgroßmutter dazu. Die versammelte die Großfamilie jeden Morgen um 11 Uhr in dem ostfriesischen Dorf Möhlenwarf zum Teetrinken um sich. Eine selbstbewusste kleine Frau, die immer schwarze Kleidung trug und in jungen Jahren Magd bei einem der reichen Bauern im Rheiderland nahe der niederländischen Grenze war. Vielleicht ging darum so ein Selbstbewusstsein, eine Lebensklugheit von ihr aus.
Damals in den 1970er Jahren hörte das blonde Mädchen gern zu, wenn die Urgroßmutter Geschichten aus der Familie erzählte. Doch dabei war schnell klar: Es ging, wie oft im Leben, mitnichten alles glatt. Vier ihrer sechs Kinder hatte sie verloren.

So habe sie, sagt Dagmar Pruin, schon früh erfahren, „dass das Leben groß und bunt, aber auch verletzbar und darum so kostbar ist“.

Seit März ist die 50-jährige Theologin Präsidentin der Aktion Brot für die Welt/Diakonie Katastrophenhilfe, einer der großen diakonischen „Player“ in Deutschland. Sie ist verantwortlich für 550 Mitarbeiter des weltweiten Entwicklungswerkes, das in mehr als 90 Ländern aktiv ist. Doch was treibt die Mutter eines zehnjährigen Sohnes und einer fünfzehnjährigen Tochter dazu an? Was bewegt sie, deren Lebensweg vom ostfriesischen Heimatdorf Möhlenwarf bis nach Israel, Palästina, Südafrika und in die USA führte?
Der christlich-jüdische Dialog hat sie nie losgelassen. Auch das sind ihre Wurzeln. Sie stand kurz vor dem Abitur. Der Bürgermeister der Stadt Weener, zu der Möhlenwarf gehört, hatte zum 50. Jahrestag der Pogromnacht im Jahr 1988 eingeladen. Dabei entstand die Idee, jüdische Bürgerinnen und Bürger von Weener, die die NS-Zeit überlebt hatten und verstreut in der Welt lebten, in ihre Heimat einzuladen. Das gefiel ihr. Gemeinsam mit anderen machte sie Adressen ausfindig, nahm Kontakt auf. Nach einem Jahr war es soweit. Über 30 Juden, die nach ihrer Flucht nie wieder das Rheiderland betreten hatten, kamen mit ihren Familien. „Das war unglaublich berührend“ erinnert sich Dagmar Pruin. Viele Verbindungen leben bis heute fort. Nicht losgelassen hat sie die Erkenntnis, „dass man Dinge einfach tun kann und so diese Welt ein Stück friedlicher machen“.

Und dann war da auch noch die Kirchengemeinde. Ihre Eltern hatten hier ihre Heimat gefunden. Damals in den 80er Jahren diskutierte die Gemeinde über das Wettrüsten zwischen Ost und West. „Kirche“, sagt Dagmar Pruin, „war für mich der Ort der Innerlichkeit, aber auch der tiefen Reflexion der gesellschaftlichen Ereignisse.“ Da sei es nur noch ein kleiner Schritt zum Theologiestudium gewesen.
Im Hamburg ging es damit 1990 los. Drei Jahre später war sie schon in Israel, studierte an der hebräischen Universität in Jerusalem jüdische Auslegung der Bibel, jüdische Rechtsauslegung und Philosophie. Dabei ging es der 23-Jährigen beim Verstehen der Texte auch um die eigene Religion, „den Verdacht gegen die eigene Tradition“. Wie kann es sein, dass der Nationalsozialismus von christlicher Seite eher gestützt als bekämpft wurde? Die Aktualität leide ja auch heute darunter, „dass es zu wenig den Verdacht gegen sich selbst gibt und zu viel Sicherheit“, sagt sie. „Dass wir Bilder von Menschen haben, die uns kaum begegnen, auch jüdische.“
Die erlebte sie 1993 auf dem Höhepunkt des israelischen Friedensprozesses. Gemeinsame Fotos vom israelischen Ministerpräsidenten Jitzchak Rabin und PLO-Chef Yasser Arafat gingen um die Welt. Der Friedensprozess war greifbar nah und doch weit weg. 1995 wurde Rabin auf einer großen Friedenskundgebung in Tel Aviv von einem jüdischen Extremisten erschossen.

„Das war dort gar nicht so eine hoffnungsfrohe Zeit, weil die Menschen viel realistischer waren als wir hier“, sagt Dagmar Pruin, die damals auch in Palästina war.

Im gleichen Jahr 1995 studiert sie wieder daheim an der Humboldt-Universität in Berlin. Auch dort gibt es Spannungen, nicht vergleichbar mit denen im Nahen Osten. Und doch für viele existenziell. Es ging um die Verständigung der Menschen zwischen Ost und West, nur sechs Jahre nach dem Fall der Mauer. In die theologische Fakultät waren 1995 gerade die ehemals kircheneigenen Hochschulen im West- und Ostteil Berlins integriert worden. „Doch so wirklich kamen die nicht zusammen“, erinnert sich Dagmar Pruin. Der Diskurs über die Erfahrungen der DDR-Zeit und die Rolle der Kirchen blieb aus. „Eine vergebene Chance“, davon ist sie überzeugt. „Von einer Kirche ohne Macht und Privilegien, die sie ja in der DDR war, hätten wir für die Zukunft lernen können.“
Von 1998 bis 2006 ist sie dann an der Humboldt-Universität wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl Altes Testament und Geschichte Israels. Reisen führen sie wieder dorthin, aber auch nach Jordanien und Ägypten. Sie unterrichtet in den USA. Als sie die Promotion im Jahr 2004 abschließt, ist sie Gastdozentin an der Universität Stellenbosch in Südafrika. Schier atemlos liest sich die Reihe der Aktivitäten. Doch sollte die Wissenschaft alles gewesen sein? 2005 wird ihre Tochter geboren. „Als sie auf der Welt war, habe ich schlagartig gemerkt, dass ich auch wieder mehr in der Welt sein wollte.“

Da kam eine Neuausschreibung gerade recht: für ein deutsch-amerikanisch-jüdisches Begegnungsprojekt. Mit Hermann Simon von der Stiftung Neue Synagoge Berlin – Centrum Judaicum schreibt sie ein Konzept. Und wird Gründungschefin von „Germany Close Up“ – einem Besuchsprogramm, das es seit 2007 mehr als 2700 jungen US-Amerikanern mit jüdischen Wurzeln ermöglicht, sich ein Bild vom modernen Deutschland zu machen. Als das gut läuft, wechselt sie zur Aktion Sühnezeichen/Friedensdienste, wird eine der beiden Geschäftsführerinnen.
Eine geheimnisvolle Ruhe geht von der gebürtigen Norddeutschen aus. Sie kommt auf Corona zu sprechen. „Gerade stellen wir fest, wie vernetzt die Welt ist. Ich glaube, dass Brot für die Welt und die Diakonie Katastrophenhilfe da eine wichtige Rolle spielen können.“ Nicht als Besserwisser, was jetzt dran ist, sondern als Partner auf Augenhöhe. Nicht immer sind das die ganz großen Geschichten. So, wie es auch für Dagmar Pruin in dem kleinen ostfriesischen Dorf begann.

Streiterin für die Menschen des Südens
Autor:

Online-Redaktion

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