Ulrich Körtner
Religion nicht "systemrelevant"

Foto: Universität Wien

Die Corona-Krise macht nach Ansicht des Wiener Theologen Ulrich Körtner einen zunehmenden Bedeutungsverlust der Kirchen deutlich. «Vom Shutdown gab es für die Kirchen und andere Religionsgemeinschaften keine Ausnahmen», heißt es in einem Beitrag des Theologieprofessors der Universität Wien für die Zeitschrift «zeitzeichen».

Religion, so die Lehre der zurückliegenden Monate, sei in der säkularen Gesellschaft nicht «systemrelevant». Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) habe sich in einer ihrer seltenen Fernsehansprachen im März an die deutsche Bevölkerung gerichtet, ohne die Kirchen, Diakonie und Caritas auch nur in einem Halbsatz zu erwähnen. Dies alles führe ernüchternd vor Augen, wie säkular die Gesellschaft inzwischen geworden sei.
«Kirchen, Synagogen und Moscheen wurden geschlossen, öffentliche Gottesdienste und das Freitagsgebet untersagt, während Baumärkte und Gartencenter geöffnet blieben oder gleich nach Ostern wieder aufsperren durften», fügte der evangelische Sozialethiker hinzu: «Religiöse Familienfeiern mussten weitgehend unterbleiben, Trauungen und Taufen verschoben werden. Beerdigungen durften nur im engsten Familienkreis stattfinden, und die Klinikseelsorge wurde vielfach aus den stationären Einrichtungen ausgesperrt, es sei denn, sie ist fester Bestandteil des Behandlungsteams.» Manche Seelsorger in Rufbereitschaft hätten die kränkende Erfahrung machen müssen, «von Angehörigen gar nicht gerufen zu werden».

Wenn in der Pandemie die bange Frage nach der ungewissen Zukunft gestellt worden sei, «spielten Naturwissenschaftler und Ökonomen die Rolle säkularer Propheten», so Körtner: «Im Ausnahmezustand entdeckten Gesellschaft und Politik, wie wichtig nicht nur Ärzte und Pflegekräfte, sondern auch Polizisten, Soldaten und Verkäuferinnen sind. Ihnen wurde öffentlich applaudiert. Von Pfarrern und Pfarrerinnen war nicht die Rede.»

Auch die Kirchenleitungen agierten defensiv. Sie hätten die massiven Eingriffe in die Ausübung der Religionsfreiheit mehr oder weniger klaglos akzeptiert, weil sie ihren Beitrag zur Eindämmung der Ansteckungsgefahr leisten wollten. Das lasse sich ethisch zwar gut begründen. Gleichzeitig akzeptierten sie damit die gesellschaftliche Führungsrolle der Wissenschaft. Die Corona-Pandemie werde damit zum Lehrstück für die Säkularisierung und Privatisierung von Religion in westlichen Gesellschaften, «die sich in der Privatisierung des Sterbens und der Trauer in Zeiten von Corona verstärkt».
Es gehöre zum Selbstverständnis der beiden Volkskirchen, dass die Kirchen zwar nicht unmittelbar Politik machen, wohl aber Politik möglich machen wollen. Gemessen an diesen Vorstellungen hätten Theologie und Kirchen in der Corona-Krise «eine starke Kränkung erfahren».

Bischof verteidigt Haltung der Kirchen

Der evangelische Bischof Tilman Jeremias hat den Vorwurf zurückgewiesen, die Kirche sei in der Corona-Pandemie gesellschaftlich bedeutungslos. Es sei vielleicht gerade die Stärke der Kirche, «sich weniger als marktschreierische Welterklärerin zu gerieren denn als hilfsbereite Begleiterin verunsicherter oder kranker Menschen», schreibt Jeremias in einem Gastbeitrag in der«Zeit».
Die Kirche habe zwar nicht die eine Antwort auf die Krise, aber Christen glaubten an einen Gott, der vor allem im Leid nahe sei, weil er menschlichen Schmerz und menschliches Sterben kenne. «Wenn wir auch nur ein wenig achtsamer miteinander aus dieser Krise gehen und ein wenig wachsamer im Blick auf die menschliche Ausbeutung natürlicher Ressourcen unserer Erde, wird die durch das Virus geprägte Bewährungszeit auch positive Effekte hervorbringen», schreibt Jeremias. (epd)

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Online-Redaktion

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